Veritas
vergeblich. Kaum hatte ich die Sonne wieder im Gesicht und sah Simonis, das Maultier bis aufs Blut peitschend, bereits am Horizont verschwinden, hörte ich es.
Es war ganz so, wie ich es mir tausendmal vorgestellt hatte: ein furchtbares Gebrüll, das Menschen und Tiere und alle Dinge erzittern lässt.
Zu kurz war die Zeit, um zu erkennen, aus welcher Richtung es kam – ein Peitschenhieb, übermächtig und schmutzig, fegte mich hinweg. Ich flog zu Boden, glücklicherweise weit fort, und während ich über die Erde rollte, hörte ich das Brüllen wieder. Da sah ich, wie er auf mich zulief, der Fürst des Schreckens, der Zerfleischer, ich erkannte die dämonischen Augen, die unflätige Mähne, die blutrünstigen Reißzähne, und ich rannte wie von Sinnen, bei jedem Schritt stolpernd, vor Entsetzen keuchend, und traute doch meinen eigenen Augen nicht. An diesem einsamen Ort vor den Toren Wiens, an diesem frostigen, klaren Frühlingstag im kalten Norden oberhalb der Alpen wurde ich von einem Löwen verfolgt.
Ich flitzte durch das Türchen linker Hand und rannte in Windeseile die Wendeltreppe hinunter. Ein kleiner Platz empfing mich. Als ich hörte, wie die Bestie einen Augenblick lang unschlüssig verharrte, um sich mir dann brüllend zu nähern, schlüpfte ich auf der Suche nach einem Ausweg in ein großes Gebäude ohne Dach.
Angesichts dessen aber, was sich mir nun darbot, wähnte ich mich vollends in einem Albtraum. Es war … ein Segelschiff.
Es hatte kleinere Abmessungen, war aber unverkennbar. Nicht nur das: Es hatte die Gestalt eines Raubvogels mit allem, was dazugehörte: Kopf und Schnabel, Flügel und Schwanzfedern, in denen eine Fahne stak.
Nunmehr gewiss, das Opfer eines neidischen Dämons und seiner todbringenden Blendwerke zu sein, sprang ich auf den gefiederten Schwanz dieses närrischen Schiffs und versuchte verzweifelt, den Fahnenstock herauszureißen, dass er mir als Waffe diene, um den Löwen abzuwehren, dessen unaufhörliches Gebrüll meine Glieder und alles um mich herum erzittern ließen.
Leider genügten die Wendigkeit des Kaminkehrers und die Leichtigkeit meines Körpers nicht, mein reifes Alter zu besiegen. Die Bestie war schneller: Mit wenigen Sätzen erreichte sie mich und stürzte sich vom Boden hochschnellend mit einem einzigen Sprung auf ihr Opfer.
Aber sie vermochte nichts. Sie hatte nicht hoch genug springen können, um mich mit ihren Krallen zu packen. Das gefiederte Segelschiff begann unter ihren Angriffen zu schwanken und schaukelte nun immer heftiger. Wieder versuchte es der Löwe mit einem höheren Sprung. Nichts. Ja, je öfter er sprang, desto kleiner schien er zu werden. Ich klammerte mich mit aller Kraft an die hölzernen Federn, denn die Fregatte schlingerte nun so stark, dass mich schwindelte, und ihr bizarres Segel – eine Art Kuppel, die den Rücken des Raubvogels bildete – krümmte und blähte sich unter hohlräumigen Luftsogen auf.
Tobend drehte sich die Welt um mich herum, während meine von Todesangst geplagten Sinne mir sagten, dass dieser groteske geschnitzte Raubvogel sich in die Lüfte zu heben begann.
In diesem Moment hörte ich jemanden mit drohender Stimme in teutonischer Mundart rufen:
«Mustafa, du Mistviech! Heit gehst ohne Futta ind’ Hapfm!»
Er hieß Frosch und stank nach Wein. Der Löwe hatte sich friedlich zu seinen Füßen hingekauert.
Frosch erklärte mir, dass das Raubtier die Gesellschaft von Menschen liebe, darum habe es, so sich jemand an diesen Ort verirre, die schlechte Angewohnheit, den Unglücklichen mit Freudengebrüll zu begrüßen, auf ihn zu springen und ihn abzuschlecken.
Der Ort Ohne Namen, genannt Neugebäu, sei beileibe nicht irgendein Ort, erläuterte er sodann. Er sei vor etwa anderthalb Jahrhunderten von Ihrer Kaiserlichen Majestät ehrwürdigen Angedenkens, Kaiser Maximilian II., erbaut worden, und von seinem einstigen Glanz bewahre er heute nur mehr die Kaiserliche Menagerie mit vielen fremdländischen Viechern, insbesondere Raubtieren. Während er so sprach, streichelte er den riesigen, glücklicherweise ermatteten, altersschwachen Löwen, der mir wenige Augenblicke zuvor noch als ein unbesiegbares Scheusal erschienen war.
«Gfrast, Mustafa, schiaches Mistviech!», schalt Frosch ihn erneut, während der Löwe sich fügsam eine Kette um den Hals legen ließ und mich verstohlen musterte. «Des tuat ma laad, dass Ihna so daschrockn harn», entschuldigte er sich schließlich bei mir.
Frosch war der Wächter über die
Weitere Kostenlose Bücher