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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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vor mir verheimlicht, Junge …»
    «Dafür habt Ihr den Blinden gespielt», erwiderte ich.
    «Es ist nicht, wie du denkst. Das habe ich getan, um mich zu schützen», verbesserte er mich lakonisch und spähte dann über den Rand des Schiffs nach unten.
    Sein Blick wanderte über den Kahlenberg, die Dächer und Kirchtürme Wiens, die Stadtmauern und das weite Glacis, die Donau mit ihren Schleifen, die Ebene jenseits des Flusses, die sich, so weit der Blick reichte, bis ins Königreich Polen und dasjenige des Zaren erstreckte; und dann über Gebäude, Brücken, Alleen, Villen, Gärten, über die Hügel mit ihren Weinstöcken, gepflügte und bestellte Felder, die Straßen, die sich von Wien aus in die Vorstädte und das Land ausbreiteten, Flüsschen und Bäche, Hänge und Schluchten: Das alles schrumpfte zu einem winzigen Ameisenhaufen, und wir durften uns dessen allmächtige, stolze Götter dünken.
    «Sagt mir: Wie lenkt man dieses Schiff? Wie kann es fliegen?»
    «Das wissen wir nicht, Signor Atto», antwortete Simonis.
    «Was? Nicht ihr beiden habt es in die Luft aufsteigen lassen?», rief er aus, und ich sah, wie panischer Schrecken sich auf seinem Gesicht abzeichnete.
    Der arme Abbé hatte geglaubt, dass Simonis und ich die Urheber unseres Aufstiegs in den Äther gewesen waren und darum auch Herrscher über die Lenkung des Schiffes. Also versuchte ich, Melani zu erklären, dass das Fliegende Schiff sich auch beim letzten Male nicht deshalb in die Lüfte erhoben hatte, weil es von uns in irgendeiner Weise angetrieben wurde, sondern allein darum, weil es – wie es schien – unsere Wünsche erahnte und erfüllen wollte: beim ersten Mal die Absicht, das Geheimnis des Goldenen Apfels zu ergründen; beim zweiten Mal das verzweifelte Verlangen, den Raubtieren vom Neugebäu zu entkommen.
    «Ein Wunsch? Der Wille allein reicht nicht aus, eine Gabel zu bewegen, vom Fliegen gar nicht zu reden. Sagt mir, dass ich träume», erwiderte Melani.
    Gerade in diesem Augenblick änderte das Fliegende Schiff mit einem sanften Rütteln seinen Kurs.
    «Was geschieht hier?», fragte Atto beunruhigt. «Wer lenkt das Schiff in diesem Moment?»
    «Es ist schwer zu verstehen, Signor Atto, aber es lenkt sich von allein.»
    «Es lenkt sich von allein …», wiederholte Melani verwirrt, warf erneut einen bestürzten Blick nach unten und schwankte leicht.
    Simonis eilte herbei, ihn zu stützen.
    «Mein Gott», sagte Atto erschauernd, während der Grieche ihm Arme und Oberkörper rieb, «es ist schrecklich kalt hier oben, schlimmer als auf dem Gipfel eines Berges. Und wie kommen wir wieder hinunter? Werden wir nicht am Boden zerschellen?»
    «Beim letzten Mal ist das Schiff auf den Boden des Ballspielhauses zurückgekehrt.»
    «Aber wir können nicht in das Stadion zurück», nuschelte Atto, der wieder kreidebleich wurde, «dort sind diese … Hilfe! Großer Gott! Heilige Jungfrau!»
    Das Schiff hatte urplötzlich gewendet. Mit einem sanften, aber entschiedenen Ruck war das Gefährt nach links abgebogen und hatte Abbé Melani mit seiner Zentrifugalkraft auf den Abgrund zugeschleudert. Zum Glück konnte Simonis, der an seiner Seite geblieben war, ihn gerade noch am Zipfel seiner Kleidung packen. Auch ich hatte mich, um das Gleichgewicht zu halten, fest an eine der Stangen klammern müssen.
    Einige Minuten lang herrschte zwischen uns Stille, nur das überirdische Klingeln der Bernsteine erfüllte die Leere. Attos Blick verlor sich jetzt im Abgrund; wie einen Rosenkranz flüsterten seine Lippen schwache, ungläubige Gebete zum Allerhöchsten, zur seligen Jungfrau, zu allen Heiligen.
    Unterdessen fuhr das Schiff fort, seinen Kurs in regelmäßigen Abständen zu korrigieren, und umrundete so, Abschnitt für Abschnitt, den gesamten Luftraum über der Stadt. Bei jeder neuen, abrupten Wendung von Simonis gestützt, kommentierte Atto fluchend und vor Erschütterung stammelnd unseren Flug:
    «Ein Leben … ein ganzes Leben …», lallte er, «ein ganzes Leben hat mir nicht genügt, um die Welt zu begreifen. Und jetzt, wo ich krepieren muss, widerfährt mir auch noch das hier …»
    Das Schiff hatte unterdessen seinen Rundflug über Wien beendet. Da hörte ich es: Das harmonische Rauschen der Bernsteine schwoll an und schmückte sich mit bizarren, unbeschreiblichen Variationen, indem es sich selbst einen Kontrapunkt aus Geflüster und Geklingel in fortwährendem Crescendo schuf. Schließlich beschenkten uns die leuchtenden Steine wie freundliche

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