Veritas
Schönbrunn angeordnet sind, dass sie wie ein verfallener römischer Tempel wirken.
So haben die vielen tausend Touristen, die sich jedes Jahr nach Schönbrunn begeben und die mächtige Fassade zur Gartenseite, die Gloriette oder die falschen römischen Ruinen bewundern, ohne es zu wissen, auch das Neugebäude vor Augen. Doch warum zog Maria Theresia es vor, das Schloss auszuweiden und seine Überreste heimlich in einer anderen architektonischen Schöpfung zu versenken, statt das Meisterwerk von Simmering zu ehren und zu retten? Man hat die sprichwörtliche Sparsamkeit der Kaiserin ins Feld geführt: Die kostbaren Säulen des Ortes Ohne Namen, die noch aus dem 16. Jahrhundert stammten, sollten nicht durch Wind und Regen verrotten. Gut und schön, aber warum gab die umsichtige Maria Theresia dann für den kleinen, orientalischen Salon im ersten Stock von Schönbrunn die irrwitzige Summe von einer Million Gulden aus (die Fremdenführer von Schönbrunn erzählen den Besuchern augenzwinkernd, dass ein erfolgreicher Arzt oder Anwalt damals 500 Gulden im Jahr verdiente)? Wenn sie ihre Ausgaben wirklich einschränken wollte, hätte die so ruhmreiche Herrscherin vielleicht auch darauf verzichten können, das große, mit goldenem und silbernem Brokat überzogene kaiserliche Bett in Auftrag zu geben, ein einzigartiges Stück von unermesslichem Wert, das nach seiner jüngsten Restaurierung nun wieder in der großen Wiener Residenz bewundert werden kann.
Die heimliche Schuld Schönbrunns gegenüber dem Neugebäude ist damit noch nicht erschöpft. So wurde bemerkt (Leopold Urban, Die Orangerie von Schönbrunn , Typoskript einer Doktorarbeit, Wien 1992), dass der Komplex in Simmering sogar «die Mutter von Schönbrunn» ist. In mehrfacher Hinsicht führt ein architektonischer Vergleich der beiden Meisterwerke «zu erstaunlichen Ähnlichkeiten» (ebd., S. 62), zum Beispiel bei der Anordnung der Nischen, Bögen und Mauerumfange in der Orangerie der Residenz und in jenen Teilen des Schlosses, die für Tiere gedacht waren. Diese Ähnlichkeiten lassen sich noch heute in der unterirdischen Galerie des Westflügels vom Neugebäude finden (wo gegen Ende der Erzählung die vorgetäuschte Verhaftung durch den Derwisch und seine Handlanger stattfindet). Sogar die Ziermasken von Schönbrunn scheinen deutlich durch jene der Brunnen im Neugebäude inspiriert. Man könnte noch hinzufügen, dass das Motiv der Kolonnaden, die eine längliche, von einem Mittelbau unterbrochene Aussichtsterrasse tragen, sowohl in der Gloriette als auch im Simmeringer Schloss auftaucht und dass die wichtigsten Elemente der baulichen Anlage (Teich, Brunnen auf der Rückseite, großer Innenhof, von Mauern umschlossener Garten) im Neugebäude und in Schönbrunn vergleichbar sind. Angenommen, das Neugebäude würde eines Tages restauriert, dann wäre nicht verwunderlich, wenn die Touristen es dem Schloss Schönbrunn entschieden vorziehen würden. Doch bis jetzt hat niemand etwas unternommen, um den Ort Ohne Namen zu retten, im Gegenteil.
Nach der Verunstaltung durch Maria Theresia geben auch ihre Nachfolger einem unerklärlichen Zerstörungsdrang nach. In den nächsten Jahrhunderten setzen sich die Plünderungen, die Verwahrlosung und Zerstörung durch Brände fort, und dazu gehört auch ein verheerender Aufenthalt militärischer Verbände während der Kämpfe zwischen dem kaiserlichen Heer und den napoleonischen Truppen. 1922 beschließt die Stadt Wien, im Inneren der Umfriedungsmauern des oberen Gartens das städtische Krematorium zu errichten, was dem Aussehen des Gesamtkomplexes einen unheilbaren Schaden zufügt. Wo einst Blumen und Obstbäume in anmutigen Reihen standen, wo die elfenbeinernen, minarettartigen Türme aufragten, wo sich kleine Alleen und Beete mit Grünpflanzen abwechselten, stehen jetzt die Schornsteine der Öfen des Krematoriums und die Grabsteine eines Friedhofs. Merkwürdig: Viele Grünflächen innerhalb des Krematoriums blieben völlig ungenutzt. Musste es wirklich unbedingt an diesem Ort gebaut werden?
1952 wird ein Werk des Bildhauers Alexandre Colin, ein wertvoller Renaissancebrunnen, den Maria Theresia aus dem Neugebäude nach Schönbrunn bringen und im Hof der Orangerie aufstellen ließ (Urban, S. 71 ff), abgebaut, um Platz für die Durchfahrt von Autos zu schaffen. Der Brunnen blieb ungenutzt im Freien stehen und verfiel. Im Laufe der Zeit verschwanden immer mehr seiner Teile, wahrscheinlich sind sie in privaten Gärten gelandet. 1962
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