Veritas
Familie erfahrt man, dass Atto am 12. April 1711 jene Kolik erlitt, von der der Schornsteinfeger erzählt. Auch die vorgetäuschte Blindheit, die er vor allem ins Feld führt, damit er die Bitten seiner Verwandten um Gefälligkeiten abwehren kann, ist durch die Briefe nachgewiesen, die er in jenen Jahren aus Paris in die Toskana schickt. Am 23. März 1711 schreibt er an Gondi:
« Meine Gesundheit schwankt fortwährend aufgrund der häufigen Wechsel des Wetters , welche wir hier erleben , jedoch weitaus mehr noch wegen meines hohen Alters , wobei man bedenken muss , dass ich zwar nicht mehr lesen und eigenhändig schreiben kann , Gott mir aber die unendliche Güte gewährt , mir meinen Geist zu erhalten , mit 85 Jahren , welche am 30. dieses Monats vollendet sein werden .»
Der Verlust des Augenlichts, der 1711 angeblich schon weit vorangeschritten war, beginnt erst zwei Jahre später: Am 6. Februar 1713, als er wirklich nicht mehr sehen kann, schreibt Atto an Luigi Melani, Domenicos Bruder: «Und als letztes Ungemach kann ich nun auch nicht mehr lesen und schreiben. Und doch hat mein Freund Monsieur de la Haye seine Sehkraft noch mit 80 Jahren wiedererlangt!» Von Gedächtnisschwund geplagt, wie alle alten Menschen, hatte Abbé Melani vergessen, dass er schon seit langer Zeit den Blinden spielte …
CAMILLA DE’ ROSSI
Im Viertel Trastevere in Rom lebte tatsächlich eine gewisse Camilla de’ Rossi, eine Ladenbesitzerin, deren Namen Franz de’ Rossi seiner Frau verlieh. Ihr Testament ist noch erhalten (Archivio capitolino di Roma, 6. Dezember 1708, Akten des Notars Francesco Madesciro).
Franz de’ Rossi war, wie die Chormeisterin erzählt, ein Musiker am Wiener Hof und starb tatsächlich im Alter von 40 Jahren am 7. November 1703 im Niffischen Hause, einem Mietshaus in der Stadtmitte, an der Lunglsucht. Im Wiener Stadt- und Landesarchiv wird das Totenbeschauprotokoll mit der Feststellung des Todes eines Franz de Rossy aufbewahrt, gemäß der üblichen Schreibweise ausländischer Namen in behördlichen Dokumenten:
Der Herr Frantz de Rossy königlich Musicus im Nüffischen Haus , in der Wollzeile , ist an Lunglsucht beschaut . Alt 40 Jahre .
Franz de’ Rossi wird als «königlicher Musicus» bezeichnet, er stand also wirklich direkt im Dienst Josephs I., der 1703 noch Römischer König war, und nicht im Dienst seines Vaters, des Kaisers Leopold I.
Der Tod wird außerdem im Wiennerischen Diarium , Nr. 28, vom 7.-10. November 1703, gemeldet:
Den 7. November 1703 starb Herr Frantz Rosij / Königlicher Musicus im Nivischen Haus in der Wohlzeil/ alt 40 . Jahr .
Von der Chormeisterin gibt es dagegen fast keine Spur, außer den Partituren und Libretti ihrer Oratorien. Es trifft zu, was Gaetano Orsini dem Schornsteinfeger sagt: Die Komponistin ist nie für ihre musikalischen Dienste bezahlt worden. Da sie in den Büchern der kaiserlichen Verwaltung nicht erwähnt ist, wird Camilla zu einer fast ungreifbaren Gestalt. Zum Glück berichtet das Wiennerische Diarium von der Aufführung der Oratorien jeweils am Karfreitag in jedem der vier Jahre, in denen die vier Kompositionen Camilla de’ Rossis entstanden (1707-1710). Nicht ohne Grund begab Joseph I. sich zu diesen Aufführungen, war er doch tatsächlich der Auftraggeber der Oratorien Camillas. Abgesehen von diesem indirekten Beweis der Tätigkeit und Anwesenheit der Komponistin in Wien haben alle Recherchen der Autoren in den Archiven jedoch zu keinem Ergebnis geführt: Wiener Staatsarchiv – Hofarchiv, OMaA (= Obristhofmarschallamtsabhandlungen) Bd. 643 (Index 1611-1749); Bd. 180 (Inventaria 1611-1749); Bd. 181 (hier taucht der Kammerdiener Vinzenz Rossi auf, wahrscheinlich der Cousin von Franz, von dem auch der Schornsteinfeger berichtet); OMeA (= Obrisrhofmarschallamt), Protokolle 6 und 7; Karton 654, Abhandlungen 1702-1704; Hofkammerarchiv, NÖHA (= Niederösterreichische Herrschaftsakten), W-61/A, 32/B, 1635-1749, Fol. 455-929: Liste verschiedener Schriften der Musiker, die an der Hofkapelle, Kammermusik und der Hofoper angestellt waren (hier und da fehlen einzelne Jahre, außerdem gibt es ausgerechnet zwischen 1691 und 1711 eine große Lücke); Gedenkbücher, 1700-1712.
Auch in den Geburts-, Trauungs- und Sterbematriken, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnen, gibt es keine Spur von Camilla; idem bei den Conscriptionsbögen (einer Art Register der Wohnhäuser und ihrer Bewohner), die jedoch erst mit dem Jahr 1805 beginnen. Vor allem gibt
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