Veritas
eine Sache von größter Wichtigkeit handeln musste, und beschloss, dass ich um nichts in der Welt Gefahr laufen wollte, ihn durch meine Schuld von der Alma Mater Rudolphina verwiesen zu sehen. Außerdem wusste ich, dass ich zu diesem Zeitpunkt ohnehin keinen Schlaf mehr finden würde. Den Rest besorgte die Neugierde.
Der Versammlungsort war eine alte Wohnung in der Nähe des Schottenklosters. Nach Simonis’ Aussage hatten einige seiner Studienkameraden sie gemietet. Kaum waren wir eingetreten, schien mir, als hätte ein Magier der Zeit mich in ein falsches Jahrhundert versetzt. Der Raum war voll junger Männer, allesamt wie alte Römer gekleidet. Sie trugen Toga und Pallium, Lorbeerkränze und an den Füßen Ledersandalen. Einige hatten Schriftrollen in der Hand, die alte Pergamente darstellten. Das Einzige, was die ganze Schar mit der heutigen Zeit verband, waren die zahllosen Bierkrüge, die kreisten und fröhlich hinuntergegossen wurden. Die Bierglocke, die ankündigte, dass von nun an nicht mehr getrunken werden durfte, hatte schon vor langer Zeit geläutet, doch diese sonderbaren Geheimbündler schienen sich darum nicht sonderlich zu bekümmern. Simonis leerte den mitgebrachten Sack, reichte mir einige Kleidungsstücke und nahm andere für sich. In diesem Moment entdeckte man ihn, und ich hörte ein erregtes Murmeln, das von einer Ecke des Saales zur anderen wanderte.
«Der Schorist, der Schorist ist kommen!», sagte ein jeder zum Nachbarn, stieß ihn mit dem Ellenbogen an und zeigte auf Simonis.
Einige Studenten kamen uns entgegen und empfingen meinen Begleiter mit überschwänglichen Umarmungen. Simonis grüßte die gesamte Schar mit einer ausholenden Geste, auf welche man ihm mit Applaus antwortete. Umringt von all den wehenden Togen, meinte man, im römischen Senat nach einer Rede Ciceros zu stehen.
Auf einmal fühlte ich mich ein wenig verloren: Simonis, der Grieche, mein Werkstattgehilfe, mein Untergebener, war der König des Abends. Ich dachte an seine Erzählung von heute Morgen über die Geschichte des Ortes Ohne Namen und seinen Schöpfer, Kaiser Maximilian II. Ganz offensichtlich besaß mein bizarrer Gehilfe verborgene Qualitäten.
Kaum hatte auch er sich wie ein römischer Senator gekleidet, geleitete man ihn zu einer kleinen hölzernen Tribüne mitten im Saal.
Auch ich hatte soeben Toga und Sandalen angelegt, die freilich viel zu groß waren, als sich erneut ein aufgeregtes Gemurmel erhob. Eine Tür zu einem anliegenden Zimmer hatte sich geöffnet. Daraus trat eine Gruppe junger Männer, die einen Gefangenen zu eskortieren schienen. In ihrer Mitte ging ein recht kurioses Wesen, besonders wegen seiner Verkleidung: ein schüchterner, schmächtiger Jüngling, der sich zögernd umblickte. Er trug einen Hut, aus dem zwei enorme Eselsohren aus Stoff und ein noch größeres Paar Kuhhörner herausragten. Aus beiden Mundwinkeln ragten die riesigen Hauer eines Wildschweins hervor, die man offenbar mit Leim an seinen Zähnen befestigt hatte. Er trug einen weiten schwarzen Umhang, der ihm etwas Trauriges und gleichzeitig Plumpes verlieh. Man hatte ihn mit einem Stock in unseren Saal getrieben, und immer noch wurden ihm Schläge auf den Rücken versetzt, wie man es bei Lasttieren macht.
«Der Beanus, der Beanus!», jubelte die Menge der Umstehenden, als der junge Mensch auf der Schwelle erschien.
Sofort erhob sich ein Gesang im Chor, misstönend und laut:
Salvete candidi hospites
Conviviumque sospites ,
Quod apparata divite
Hospes paravit , sumite .
Beanus iste sordidus
Spectandus altis cornibus ,
Ut sit novus scholastichus
Providerit de sumtibus
Mos est cibus magnatibus …
Da ich mich inmitten dieser rauflustigen Truppe etwas verloren fühlte, ging ich auf Simonis zu. Ich bemerkte, dass er sich eine Darmsaite an den Gürtel geknüpft hatte, wie man sie für Lauten, Gitarren oder Theorben benutzt.
«Das ist ein feierlicher Hymnus, mit dem der Novize willkommen geheißen und der Vorsatz kundgetan wird, aus ihm einen richtigen Studenten zu machen», erklärte er, wobei er mir ins Ohr schrie, um das betrunkene Grölen seiner Freunde zu übertönen.
«Was bedeutet Beanus?», fragte ich Simonis.
«Oh, ein Italiener, auch ich spreche deine Sprache!», mischte sich ein großgewachsener, dickbäuchiger Student ein. Er hatte die blitzenden Augen, das freundliche Gesicht, die feisten, roten Wangen und das dunkle, dichte Haar der Menschen aus dem Osten.
«Das ist Hristo Hristov Hadji-Tanjov»,
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