Verlangen
er die Ältesten von ihrem schwerwiegenden Irrtum überzeugen konnte.
»Du denkst so scharf nach, dass ich dein Gehirn ticken höre«, sagte sie trocken und knabberte an seinem Kinn. »Bist du wirklich beunruhigt wegen meiner Bilder? Es tut mir leid. Ich …«
»Lyssa, nein.« Er legte eine Hand auf ihren Hinterkopf und presste ihr einen harten Kuss auf die Stirn. »Dir braucht nichts leidzutun. Die Zeichnungen sind wunderbar. Ich fühle mich geschmeichelt.«
»Wo liegt denn dann das Problem?«
»Überall, nur nicht bei dir.« Er erwiderte ihren finsteren Blick mit eindringlichem Ernst. »Wenn ich fortgehe, wirst du das Tor hinter mir abschließen, und du wirst niemanden einlassen. Noch nicht einmal mich.«
»Huch?«
Seine Stimme senkte sich, und sein Tonfall wurde noch eindringlicher. Bei der Erkenntnis, dass dort draußen Wächter waren, die zielstrebig und mit großer Präzision Jagd auf sie machten, überlief ihn selbst jetzt eine Gänsehaut. »Sie werden kommen. Sie werden mit allen Tricks arbeiten, damit du glaubst, ich stünde vor der Tür, aber es werden andere sein, nicht ich.«
»Aidan, du jagst mir Angst ein.« Ihre Arme schlossen sich noch enger um ihn und sagten ihm ohne Worte, dass sie sich auf seinen Schutz verließ.
Er würde sie mit seinem Leben beschützen. Für ihn war die Legende vom Schlüssel in Frage gestellt, doch diese Legende war unentwirrbar in den Gobelin ihres Lebens hineingewoben. Auf der Jagd nach dem Schlüssel setzten Wächter ihr Leben aufs Spiel. Es gab keine Alternative für sie oder die Ältesten. Der Schlüssel musste zerstört werden. Ohne Fragen zu stellen. Wenn er sich mit Lyssa zusammentat, würde die Jagd auch auf ihn eröffnet werden.
»Versprich mir, dass du niemandem die Tür öffnen wirst.«
»In Ordnung, ich verspreche es.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, unvergossene Tränen schimmerten in ihren Augen. »Du willst mir damit sagen, dass ich dich nicht wiedersehen werde, stimmt’s?«
»Du wirst mich wiedersehen, Baby.« Er nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie mit all der Gier, die sie in ihm wachrief. »Aber du wirst nicht wissen, wer ich bin.«
5
Schon seit einer Ewigkeit hatte das simulierte Aufhellen des Himmels Aidan mit Erleichterung erfüllt. Es bedeutete, dass seine Schicht vorüber war. Ein weiterer Tag war vergangen. Er konnte den Hügel zu seinem Haus hinauf reisen und versuchen zu vergessen, dass die endlosen Tage vor ihm genauso sein würden wie der letzte.
Aber heute ließ das schrittweise Vergehen der Zeit sein Herz in einem ungleichmäßigen Takt schlagen. Wie ein Tier im Käfig lief er auf seiner überdachten Veranda auf und ab.
Tick, tack, tick, tack. Wie die Standuhren, die er in den Erinnerungen von Träumern gesehen hatte. Es war nur eine Frage von Stunden, bis Lyssa wieder einschlafen würde und sie jemanden zu ihr schickten. Wenn sie denjenigen nicht einließ, würden sich die Ältesten zum Handeln gezwungen sehen, und sie würden ihr massenhaft nachstellen.
Er musste ein Portal zwischen seiner Welt und Lyssas Welt finden, und er musste es jetzt finden.
Die möglichen Gefahren schreckten ihn nicht ab. Aidan war fest entschlossen. Es gab keine Alternativen, keine Wahlmöglichkeiten. Wenn er nicht fortging, würde Lyssa sterben.
Wo sollte er beginnen? Aidans Neugier hatte zu monatelangen Recherchen in der Halle des Wissens geführt. Dabei war er nur selten auf Hinweise zur Erschaffung von Spalten gestoßen, und selbst die waren sehr vage gewesen.
Aidan hatte nicht monatelang Zeit.
»Du hast diesen Gesichtsausdruck«, murmelte eine Stimme hinter ihm.
Mit einem schnellen Seitenblick stellte Aidan fest, dass Connor die wenigen Stufen zur Veranda heraufkam. »Ich glaube, ich habe das gefunden, was manche als den Schlüssel ansehen könnten.«
Connor erreichte die Veranda und schüttelte die taufeuchten Grashalme ab, die am Saum seiner Robe hafteten. »Ich dachte, du hättest gesagt, den Schlüssel gäbe es nicht.«
»Es gibt ihn auch nicht.« Aidan schüttelte den Kopf. »Diese Person, sie gibt es nicht. Ihn , den Schlüssel, gibt es nicht. Und wenn es ihn doch gibt, dann ist er mit teuflischer Sicherheit nicht Lyssa.«
»Okay …?«
»Lyssa kann mich sehen«, erklärte Aidan.
Connors Augen wurden schmal. »Bist du sicher?«
»Sie hat mich gezeichnet.«
Der leise Pfiff, der den stillen Morgen zerriss, war von Dingen erfüllt, die nicht laut ausgesprochen werden mussten – Erstaunen, Sorge und reichlich
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