Verlangen
es, was deine Familie braucht. Was hast du schon zu verlieren? Wenn es nicht klappt, kannst du immer noch deine alte Arbeit wieder aufnehmen.«
Billy starrte sie an. Er versuchte, etwas unter der Kapuze zu erkennen. Schließlich schüttelte er furchtsam den Kopf. »Ihr seid’s, nich wahr? Ihr beide seid die Geister. Der Bernsteinritter und seine Lady. Ich brauche nur den Schal anzugucken. Es stimmt, was sie im Dorf erzählt haben. Ihr seid zurückgekommen, um nachts über die Felder von Stonevale zu reiten.«
»Geh nach Hause, Billy. Ich glaube, wir alle hatten genug Aufregung heute nacht«, sagte Lucas.
»Zu Befehl, Sir. Das brauchen Sie mir nich zweimal zu sagen. Ich bin es nich gerade gewöhnt, mich mit zwei Geistern zu unterhalten.« Billy zerrte an den Zügeln seines kräftigen Gauls und trieb das Tier mit kräftigen Tritten zu einem schaukelnden Trab an.
Victoria sah zu, wie der Junge hinter der Kurve entschwand, bevor sie mit einem leisen Lachen die Kapuze abstreifte. »Ich muß zugeben, Graf, daß es immer höchst interessant ist, wenn wir beide nächtliche Ausflüge unternehmen.«
Lucas murmelte einen Fluch. »Es ist zumindest nie langweilig, nicht wahr?«
»Nie. Was wollen wir als nächstes tun?«
»Wir könnten den Rat befolgen, den mir die Lady in der
Kutsche gegeben hat. Ich könnte dich mit nach Hause nehmen und dafür übers Knie legen, daß du so unverfroren bist, mitten in der Nacht in Männerhosen herumzulaufen. Aber wahrscheinlich würde das auch nichts nützen.«
»Nicht das geringste«, pflichtete Victoria ihm fröhlich bei. »Auf jeden Fall war das Abenteuer heute nacht deine Idee, so daß es reichlich unfair wäre, mich dafür zu schlagen.«
»Aha, aber du hältst mich doch sowieso nicht für einen fairen Mann, Vicky. Du hältst mich für anmaßend, herrschsüchtig und rücksichtslos, ganz zu schweigen von meiner Tugendhaftigkeit.«
Sie senkte den Blick. »Lucas, ich...«
»Egal, Vicky. Es ist höchste Zeit, nach Hause zu reiten. Du hattest ja schließlich dein nächtliches Abenteuer.«
Er lenkte George in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und Victoria blieb keine Wahl, als ihm zu folgen.
Eine halbe Stunde später lag sie allein in ihrem Bett. Doch sie war weit davon entfernt zu schlafen.
Sie wälzte sich auf die Seite und ließ sich in ihr Kissen fallen. Lucas’ Worte gingen ihr einfach nicht aus dem Kopf. Du hältst mich für anmaßend, herrsch süchtig und rücksichtslos.
Und das war er auch, wie sie sich zum hundertsten Male versicherte. Nach der Auseinandersetzung vom Vormittag bedurfte es keines weiteren Beweises. Sie hatte gewußt, daß er früher oder später sein wahres Gesicht zeigen und sich wie jeder andere sogenannte Gentleman nach der Heirat verhalten würde, indem er die Kontrolle über das Geld seiner Frau übernahm.
Doch ebensogut wußte sie, daß jeder andere sogenannte Gentleman aus ihrem Bekanntenkreis den armen Billy den Behörden übergeben und ohne Gewissensbisse hätte hängen sehen. Oder der Gentleman hätte den Jungen einfach auf der Straße erschossen und sich dabei noch wie ein Held gefühlt.
In dem Augenblick jedoch, als sie feststellten, daß sie es mit einem Jungen aus der Gegend zu tun hatten, war ihr klar gewesen, wie Lucas reagieren würde. Sie hatte gewußt, daß er den Jungen weder erschießen noch an den Galgen bringen würde.
Die Wahrheit war, daß ihr Mann den meisten der ihr bekannten Gentlemen nicht im geringsten glich, und das hatte sie von Anfang an gewußt. Dies war ja der Grund, weshalb sie sich in ihrer jetzigen Situation befand.
Das hieß jedoch nicht, daß Lucas nicht zuweilen übermäßig arrogant, anmaßend und herrschsüchtig war.
Sie wälzte sich auf die andere Seite und blickte zu der verschlossenen Tür zwischen ihren beiden Räumen hinüber. Der Ankleidetisch stand nach wie vor davor. Lucas hatte sich geradewegs in sein eigenes Zimmer begeben, nachdem er sie vor ihre Tür geleitet hatte.
Victoria hatte erwartet, daß er nach dieser aufregenden Nacht mit zu ihr kommen würde. Daß er es nicht tat, verwirrte sie.
Sie fragte sich, ob sie zu weit gegangen war, indem sie die Verbindungstür verbarrikadiert hatte. Vielleicht hatte sie durch ihren Widerstand seinen Stolz verletzt. Schließlich war er ihr Ehemann. Er hatte gewisse Rechte.
Auch konnte sie nicht leugnen, daß sie als seine Frau gewisse Pflichten hatte.
Sie sollten Partner sein in dieser Ehe, ebenso wie sie Partner gewesen waren bei ihrem
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