Verlangen
verstehen könne. Er flehte mich an, ihn allein zu lassen. Schließlich gingen in einer Nacht die Nerven mit ihm durch. Er verfolgte mich mit einem Messer und sagte, er würde mich noch einmal töten, und dieses Mal würde er sicher gehen, daß ich nicht wiederkommen würde.«
Lucas schloß für eine Sekunde die Augen und versuchte, nicht daran zu denken, wie nahe sie ihrem eigenen Tod gekommen war. »Und dabei hatte er den Unfall auf der Treppe?«
»Ja. Ich floh den Gang hinab und rannte die Treppen hinunter. Er war direkt hinter mir, hielt das Messer in der erhobenen Hand und schrie, er würde mich umbringen. Nachdem er etwa ein Drittel der Treppe hinuntergerast war, verlor er das Gleichgewicht und stürzte zu Tode.«
»Die Bediensteten«, murmelte Lucas. »Wo waren die?«
»Es waren nur zwei im Haus, ein älteres Ehepaar, dessen Räume am anderen Ende des Hauses liegen. Sie hatten die Angewohnheit, sich früh zurückzuziehen, und ihrem Herren bis zum Morgen aus dem Weg zu gehen. Der Schrei, den sie vielleicht gehört haben in jener Nacht, war sicher nicht der erste, den sie in dem Haus vernahmen. Sie hatten sich daran gewöhnt, sich nicht in seine Angelegenheiten einzumischen.«
»Ich verstehe. Hast du nachgesehen, ob dein Stiefvater wirklich tot war?«
»Nein. Ich war so verängstigt, daß ich einfach davonlief. Vielleicht ist er bei dem Sturz gar nicht zu Tode gekommen.« Sie blickte auf den Zeitungsartikel. »Lucas, ich weiß nicht, was ich glauben soll. Meinst du, er hätte seine Beerdigung vielleicht nur inszeniert, um mich so verfolgen zu können, wie ich ihn einst verfolgt habe?«
»Das wäre eine Möglichkeit.«
Victoria nagte an ihrer Lippe. »Was hat er die ganzen Monate über getrieben, wenn er wirklich noch lebt?«
»Vielleicht hat er sich versteckt? Vielleicht wollte er sehen, ob du dich den Behörden stellst?«
»Er war tot. Ich weiß, daß er tot war. Ich habe ihn umgebracht«, sagte sie.
»Du hast ihn nicht ermordet, Vicky. Du hast auf sehr clevere Weise versucht, ein Geständnis zu erzwingen, und du hast es bekommen. Dabei wurdest du selbst fast getötet, das ist alles«, sagte Lucas bestimmt. »Ob er tatsächlich tot ist, bleibt abzuwarten. Diese Sache mit der Broschüre und der Nachricht beweist lediglich, daß es noch ein paar offene Fragen gibt.«
»Wie zum Beispiel, wer mir diese Nachricht, die Broschüre und den Zeitungsartikel geschickt hat.«
»Ja«, pflichtete Lucas ihr bei. »Das ist eine der Fragen, auf die wir so schnell wie möglich eine Antwort finden sollten. Außerdem ist da noch die Kleinigkeit mit der Kutsche, die dich fast überfahren hätte, und mit dem Straßenräuber, der mich in der Nacht, bevor du die Tabaksdose fandest, angegriffen hat.«
»Lucas, mir wird richtig schwindelig. Ich kann so nicht weitermachen. Ich brauche die Antworten auf meine Fragen.«
»Ich kann dir nur von ganzem Herzen zustimmen. Wie gesagt, es gibt mehrere Fragen, auf die wir so schnell wie möglich eine
Antwort finden müssen. Ich denke, am besten beginnen wir in der Stadt, dort wo alles anfing.« Er lächelte. »Jetzt haben wir also neben der Einladung zu Lady Athertons Ball noch einen guten Grund, nach London zu fahren, nicht wahr?«
Victoria lachte schwach. »Lucas, du bist wirklich unmöglich. Selbst in einem Augenblick wie diesem intrigierst du noch, um mich dazu zu bewegen, mich deinen Wünschen zu beugen.«
»Strategie, meine Liebe. Dafür bin ich bekannt. Nun, wenn es auch sicher im Augenblick nicht so aufregend ist, wie ich gehofft hatte, habe ich dennoch eine kleine Überraschung für dich. Erinnerst du dich an das Bild von der Strelitzia reginae ?«
»Ja, natürlich. Was ist damit?«
Lucas bedachte sie mit einem leichten Grinsen. »Der Pfarrer hätte gern ein weiteres halbes Dutzend ähnlicher Aquarelle für sein Buch über Gartenpflanzen.«
Die Überraschung auf Victorias Gesicht war Lohn genug für alle seine Mühen, dachte Lucas.
17
Lucas hatte ihre grausigen Enthüllungen so ruhig aufgenommen, als habe sie ihm gerade erklärt, was es zum Dinner gebe. Was hatte sie erwartet? Diese Frage beschäftigte Victoria immer noch, als sie ein paar Tage später mit Annabella und Tante Cleo im Geschäft einer schicken Londoner Schneiderin stand.
Hatte sie tatsächlich auch nur einen Moment lang geglaubt, er würde wie jeder andere normale Ehemann auf diese schockierende Neuigkeit reagieren?
Wenn es eine Sache gab, die sie inzwischen gelernt hatte, dann, daß er ganz
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