Verlangen
bestimmt kein gewöhnlicher Ehemann war. Auch wenn er zuweilen arrogant und in bestimmten Dingen etwas spießig war, so behielt er doch immer einen kühlen Kopf.
Und er sorgte sich allzeit um die Seinen. Die Hingabe, mit der er sich um die Ländereien und die Menschen von Stonevale kümmerte, bewies es.
Dennoch hatte sie eine solch gelassene, nüchterne Reaktion nicht gerade erwartet. Die Tatsache, daß er ihre grausige Vergangenheit so gleichmütig hinnahm, erschreckte sie beinahe. Aber schließlich hatte sie es mit einem Mann zu tun, der sie bereits in eine Spielhölle und ein Bordell mitgenommen hatte, mit einem Mann, der sie zu mitternächtlichen Reitausflügen einlud.
»Ist das nicht ein wunderbarer Seidenstoff, meine Liebe? Genau deine Farbe.« Tante Cleo zeigte auf einen Ballen bernsteinfarbenen Stoffs. »Daraus ließe sich bestimmt ein bezauberndes Ballkleid machen.«
»O ja, Vicky. Gerade richtig für Jessica Athertons Ball«, erklärte Annabella. »Mit einem solchen Kleid wirst du die Königin des Abends werden.«
»Sehr hübsch.« Victoria befühlte den wunderschönen Stoff.
»Was hältst du von Musselin, Vicky?« Tante Cleo sah sie fragend an.
»Sehr nett.« Victoria zwang sich, der ganzen Angelegenheit mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Der dunkelgelbe Musselin gefiel ihr auf Anhieb.
»Aber nicht für Lady Athertons Ball«, beharrte Annabella.
»Wie wäre es dann mit einem Spazierkleid aus diesem Stoff?« schlug Victoria vor.
Die Schneiderin, eine kleine Frau mit stark französischem Akzent, nickte begeistert. »Entzückend, Mylady.«
»Sehr gut, dann nehme ich ein Ballkleid aus Seide und ein Spazierkleid aus dem gelben Musselin«, entschied Victoria. »Nun, was das Abendkleid betrifft, ich möchte es entsprechend der neuesten Mode, verstehen Sie?«
»Es muß unbedingt die Aufmerksamkeit der Leute erregen«, erklärte Annabella. »Vielleicht in der Art.« Sie zeigte auf ein Bild an der Wand.
»Ein wunderhübsches Kleid, Madam«, versicherte ihr die Schneiderin.
Tante Cleo runzelte die Stirn, als sie das Bild betrachtete. Es zeigte eine Frau in einem Kleid mit kaum verhülltem Dekollete. »Meinst du, das würde Lucas gefallen, Vicky? Du weißt, was er gestern abend beim Dinner gesagt hat. Er betonte ausdrücklich, daß er nicht möchte, daß du etwas allzutief Ausgeschnittenes trägst.«
»Lucas sagt gern solche Dinge«, erklärte Victoria. »Aber im Grunde kennt er sich mit Mode überhaupt nicht aus. Dieses Kleid ist für Lady Athertons Party, und Annabella hat vollkommen recht - es muß einfach so aufregend wie möglich sein.«
»Ja, nun, ich werde es dir überlassen, das Lucas zu erklären«, bemerkte Cleo. »Schließlich ist er dein Ehemann.«
Annabella kicherte. »Ich bin sicher, daß Vicky sich ihren Grafen inzwischen so zurechtgebogen hat, daß er ihr keine Schwierigkeiten mehr macht.«
Victoria lächelte heiter und beschloß, es sei vollkommen unnötig zuzugeben, daß Lucas immer noch gewisse Kanten hatte, die abgeschliffen werden mußten, bevor er der perfekte Ehemann wäre. »Er wird mit diesem Kleid bestimmt zufrieden sein.«
»Ich schwöre dir, Vicky, du bist uns allen ein Vorbild«, sagte Annabella voller Bewunderung.
Cleo Nettleship hob die Augenbrauen. »Oder einfach ein höchst gefährliches Beispiel. Nun gut, gehen wir. Wir haben noch eine Reihe anderer Termine heute.«
Kurze Zeit später folgte Victoria ihrer Tante und Annabella hinaus in die Bond Street. Die exklusive Einkaufsstraße war wie immer dichtbevölkert. Es wimmelte nur so von modernen Kutschen, gutgekleideten Frauen und Dandys in grellen Anzügen.
Tante Cleos Kutsche wartete am Straßenrand. Gerade als sie einsteigen wollten, hielt ein anderes Gefährt dahinter, und der Kutscher sprang hinab, um seinem Fahrgast behilflich zu sein.
Isabel Rycott stieg aus. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid, das die Farbe ihrer Augen betonte. Ein kleiner, federbesetzter Hut saß keck auf ihrem glänzenden, dunklen Haar.
»Guten Morgen, Lady Nettleship. Wie schön, Sie zu sehen.«
»Isabel.« Cleo nickte höflich.
»Und die bezaubernde Braut.« Isabel setzte ihr geheimnisvolles Lächeln auf, als sie sich an Victoria wandte. »Was für eine Aufregung Sie erzeugt haben durch Ihre Heirat mit Graf Stonevale. Äußerst romantisch, wahrlich, obgleich ich mich frage, was Ihre lieben Eltern zu einer solch überstürzten Hochzeit gesagt hätten.«
»Da sie nicht mehr am Leben sind, spielt das wohl keine große \ Rolle, nicht
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