Verlangen
Ich bezweifle, daß du irgend etwas gestehen könntest, was den höllischen Erlebnissen gleichkommt, die ich auf dem Schlachtfeld hatte. Erzähl mir alles, mein Herz.«
»Nun gut, Lucas.« Ihre Stimme war tragisch. »Aber sage nicht, daß ich dich nicht gewarnt habe.«
»Das werde ich niemals behaupten.«
»Ich habe ihn umgebracht.« Sie verharrte vollkommen reglos in seinen Armen, offensichtlich in Erwartung seines Entsetzens. »Ich habe Samuel Whitlock ermordet.«
»Hmmm«, murmelte Lucas. »Diese Frage habe ich mir seit langem gestellt.«
Sie warf den Kopf zurück und starrte ihn an. »Wirklich? Aber wie bist du darauf gekommen? Ich habe monatelang mit niemandem darüber gesprochen. Selbst meine Tante hat keine Ahnung von dem, was ich getan habe.«
»Es war nichts, was du gesagt oder getan hast. Nur ein paar Kleinigkeiten, die mich neugierig machten.«
»Um Himmels willen, was für Kleinigkeiten?«
»Nun, zum einen der Zeitpunkt von Whitlocks Tod so kurz nach dem Unfall deiner Mutter, und die Tatsache, daß du überzeugt warst, er habe sie umgebracht und würde niemals dafür hängen. Außerdem kenne ich dich inzwischen recht gut. Zugegebenermaßen nicht so gut, wie ich dich gern kennen würde, aber gut genug, um relativ sicher zu sein, daß du die Ermordung deiner Mutter nicht ungesühnt lassen würdest.«
Es gab eine Pause, und dann sprach Victoria mit kaum hörbarer Stimme. »Das scheint Sie nicht sonderlich zu entsetzen, Graf.«
Lucas dachte über ihre Worte nach. »Alles, was mich entsetzt, ist der Gedanke an die Risiken, die du dabei in Kauf genommen haben mußt.«
Sie seufzte. »Ich wollte ihn nicht töten, weißt du? Alles, was ich wollte, war ein Geständnis. Aber ich muß zugeben, daß ich nicht gerade traurig war, als ich feststellte, daß er tot war. Tatsächlich war ich erstaunlich erleichtert.«
»Ich möchte nicht indiskret sein, aber warst du dabei, als er starb?«
Victoria vergrub ihr Gesicht in Lucas’ Hemd. »O ja. Ich habe es gesehen. Und dabei hätte ich beinahe meinen eigenen Tod erlebt.«
»Großer Gott. Was ist geschehen?«
»Das ist eine lange Geschichte. Bist du dir sicher, daß du sie hören willst?«
»Ich versichere dir, ich bin durchaus bereit, dir nötigenfalls den ganzen Tag und die ganze Nacht zuzuhören.« Er drängte sie sanft in ihren Sessel und nahm ihr gegenüber Platz. »Sprich, Vicky. Erzähl mir alles.«
Sie zerrte an dem Taschentuch in ihrem Schoß, doch sie sah ihm entschlossen in die Augen. »Du mußt wissen, daß mein Stiefvater viel trank. Manchmal wurde er dann gewalttätig. Seine Trinkgewohnheiten waren kein Geheimnis, und ich beschloß, sie mir zunutze zu machen.«
»Strategie«, sagte Lucas zustimmend.
Sie runzelte die Stirn. »Ja, nun, mir fiel einfach keine andere Lösung ein. Ich kannte das Haus gut, da ich einige Jahre dort gelebt hatte, bevor mich meine Mutter zu meiner Tante schickte. Es war ein großes, altes Gebäude mit Geheimgängen und langen Fluren mit versteckten Türen zu einigen der Räume. Ich benutzte diese Informationen, um meinen Stiefvater zu verfolgen.«
»Du hast ihn verfolgt ?«
Sie schneuzte sich. »Ja.«
»Erstaunlich.«
»Wirklich, Lucas, du solltest nicht so fasziniert sein von dieser Sache. Wenn man es bedenkt, war mein Handeln wohl eher verwerflich.«
»Sagen wir einfach, ich finde es vom wissenschaftlichen Standpunkt her interessant. Was ist so schlimm daran? Zumindest ist es wohl kaum schlimmer als zu versuchen, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Bitte fahr fort, meine Liebe.«
»Ich habe es so arrangiert, daß ich eine Woche lang bei
Freunden wohnte, die zufällig in der Nähe des Hauses lebten. Jedermann wußte, daß ich mich in der Nähe meines Stiefvaters nicht wohl fühlte, und diese Leute waren Freunde meiner Mutter gewesen, so daß sie mir gewogen waren. In dieser Woche habe ich mich mehrere Male nachts aus dem Haus geschlichen und bin durch den Wald zum Haus meines Stiefvaters gegangen. Ich trug das Hochzeitskleid meiner Mutter, und ich begann, Samuel Whitlock zu verfolgen.«
»Du hofftest, er würde dich in seinem betrunkenen Zustand für den Geist seiner toten Frau halten?«
Victoria nickte. »Zunächst dachte er, er hätte Alpträume. Dann begann er, mit mir zu sprechen. Es war unheimlich, Lucas. Er befahl mir, zu verschwinden und ihn in Ruhe zu lassen. Dann erzählte er mir, daß er niemals hatte heiraten wollen, daß er jedoch auf das Geld angewiesen gewesen war, und weshalb ich das nicht
Weitere Kostenlose Bücher