Verlangen
Ein akzeptabler Ehemann?
»Entschuldige mich, Jessica. Ich glaube, ich sehe dort drüben am Fenster Potbury. Ich wollte ihn noch etwas fragen.«
»Selbstverständlich.«
Lucas entfloh seiner Gastgeberin, aber er wußte, daß er ihren Worten nicht würde entfliehen können. Wie so oft ging Jessica Atherton ihm zwar ein wenig auf die Nerven, zugleich jedoch hatte sie mit ihren Bemerkungen wohl nicht ganz unrecht. Es stimmte, wenn sie sagte, daß Victoria eine ehrenwerte und integre Frau war. Aber Lucas mißfiel der Gedanke, daß sie ebenfalls recht haben könnte mit ihrer Behauptung, daß Victoria diese Beziehung zweifellos als Vernunftehe akzeptiert habe. Er wollte mehr sein als ein akzeptabler Ehemann.
Er konnte nicht glauben, daß Victoria lediglich in weiblicher Pflichterfüllung in seinen Armen stöhnte und erschauderte. Sie mochte ihn. Er war sich fast sicher, daß sie ihn eines Tages auch wieder lieben würde, wenn sie erst einmal aufhörte, diese Schutzwälle zwischen ihnen zu errichten. Nur ihr verdammter weiblicher Stolz hielt sie davon ab, sich ihm vollständig zu unterwerfen.
Lord Potbury lächelte freundlich, als er Lucas sah. »Schön, Sie wiederzusehen, Stonevale. Ich muß sagen, Ihre Braut sieht hinreißend aus heute abend. Wie stehen die Dinge in Yorkshire?«
»Sehr gut, danke. Aber ich vermisse die wöchentlichen Versammlungen der Gesellschaft. Ich wollte Sie fragen, wie Sie mit den Elektrizitätsversuchen vorankommen. Haben Sie von irgend etwas Neuem auf diesem Gebiet gehört?«
Lord Potbury strahlte. »Grimshaw hatte letzte Woche einen kleinen Unfall. Er hat einen fürchterlichen Schlag bekommen. Er war ziemlich erledigt, aber inzwischen hat er sich recht gut erholt.«
»Das freut mich zu hören. Woran hat er gearbeitet?«
»Er will ein kleineres, kompakteres System zur Elektrizitätsspeicherung entwickeln. Hoffentlich bringt er sich mit dem Zeug nicht um, bevor er die Erfindung zu Ende gebracht hat.«
»Kürzlich las ich, daß es erneute Versuche zur Wiederbelebung von Toten gegeben hat«, sagte Lucas beiläufig.
»Ja, ja, davon habe ich auch gelesen. Ganz interessant, aber bis jetzt scheint noch niemand eine der wiederbelebten Leichen herumspazieren gesehen zu haben.« Potbury gluckste.
»Sie glauben also nicht, daß derartige Versuche sich als fruchtbar erweisen könnten?«
»Da kann man sich nicht sicher sein. Ich persönlich hege jedoch ziemliche Zweifel an dieser Sache.«
»Ja«, sagte Lucas. »Ich auch. Das heißt also, daß wir uns mit unseren Fragen an die Lebenden wenden müssen.«
»Verzeihung?«
»Ach nichts. Ich habe nur zu mir selbst gesprochen. Wenn Sie mich entschuldigen wollen, ich denke, ich sollte versuchen, meine Frau zu finden.«
»Viel Glück. Ziemliches Gedränge hier heute abend, nicht wahr? Und es wird noch schlimmer. Es kommen immer mehr Leute. Wahrscheinlich wird dies das Fest der Saison. Ah, dort ist Lady Nettleship. Sie sieht heute abend bezaubernd aus, nicht wahr? Ich versuche einmal, mich zu ihr durchzukämpfen.«
Lucas nickte höflich und machte sich ebenfalls auf den Weg durch die Menge. Es war schwierig, voranzukommen, da fast jeder, dem er begegnete, darauf bestand, ihm mit ein paar Worten zu gratulieren.
Er hatte die Hälfte des Raumes durchquert, als ihm einer der livrierten Pagen in den Weg trat und ihm ein kleines Silbertablett entgegenhielt, auf dem eine versiegelte Nachricht lag.
»Ein Mann erschien an der Tür und bat darum, Ihnen das hier auszuhändigen, Graf«, sagte der Page höflich. »Es tut mir leid, daß es etwas gedauert hat. Ich habe einen Moment gebraucht, um Sie in der Menge ausfindig zu machen.«
Lucas runzelte die Stirn und nahm die Nachricht. Er nickte und legte ein paar Münzen auf das Tablett, woraufhin der Page im Meer der Gäste verschwand.
Habe Informationen über gewisse Zwischenfälle, die Sie interessieren sollten. Sehr dringend. Warte draußen an der Ecke in einer schwarzen Kutsche.
Lucas zerknüllte die Nachricht und sah durch den Raum zu Victoria hinüber, die inmitten einer Gruppe schwatzender, lachender Leute stand. Erneut machte er sich auf den Weg in ihre Richtung, wobei er dieses Mal nicht höflich stehenblieb, wenn er von Gratulanten angerufen wurde.
»Wäre es wohl möglich, daß ich meine Frau für einen kurzen Moment entführe?« bemerkte er, als er sich durch die Gruppe um Victoria drängte. Es war ein Befehl, keine Frage, und umgehend traten alle einen Schritt zurück.
Victoria sah überrascht auf.
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