Verlangen
Augen, und sie zwang sich, an etwas anderes zu denken. Falls Lucas sich noch nicht auf Edgeworth gestürzt hätte, würde sie das tun, sobald sie ihn fände.
Victoria rümpfte die Nase wegen des Gestanks, der ihr aus der Gasse entgegenschlug. Sie hüllte sich in ihren Umhang und zog die Kapuze tief ins Gesicht, während sie eilig um die Ecke bog.
Eine Mietkutsche erwartete sie dort. Der offensichtlich ziemlich betrunkene Kutscher tippte sich grinsend an den Hut. »Nehme an, Sie sind die Lady, auf die ich gewartet habe.«
Er dachte wohl, sie wäre auf dem Weg zu einem Rendezvous mit einem heimlichen Geliebten, also schwieg sie. Sie hüllte sich tiefer in ihren Umhang und stieg eilig ein. Das Gefährt fuhr an, bevor sie noch ordentlich Platz genommen hatte, so daß sie beinahe das Gleichgewicht verlor.
Als sie die Hand ausstreckte, um sich abzustützen, berührte sie einen Sack. Sofort wußte sie, daß er die Kleider enthielt, die sie tragen sollte.
Als sie Reithosen, Hemd und Stiefel aus dem Sack zog, wurde ihr übel. Dies war kein Zufall. Wer immer die Nachricht geschickt hatte, mußte wissen, daß sie die Angewohnheit hatte, nachts in Männerkleidern herumzulaufen. Wenn diese Person von diesem dunklen Geheimnis wußte, hätte sie vielleicht auch Kenntnis von anderen Dingen.
Ein Geist wüßte solche Dinge oder jemand, der sie wie ein Geist verfolgte, so wie sie einst Samuel Whitlock in den Gängen seines eigenen Hauses verfolgt hatte. Victoria erschauderte.
Doch darüber durfte sie sich im Augenblick keine Gedanken machen. Es war einzig wichtig, Lucas zu retten.
Als die Kutsche vor dem Grünen Schwein zum Stehen kam, spürte sie erneute Übelkeit aufsteigen. Auch das Fahrtziel konnte kein Zufall sein. Irgend jemand wußte über alles Bescheid.
Mit zitternden Händen zog sie den Umhang über die Männerkleider und setzte die Kapuze auf. Dann rollte sie eilig ihr Kleid und die anderen abgelegten Kleidungsstücke zusammen und stopfte sie in den Sack.
»Dritter Raum oben«, murmelte der Kutscher, als sie ausstieg. »Nehme an, Sie werden viel Spaß haben. Die feinen Herrschaften amüsieren sich ja meistens, während wir für unsern Lebensunterhalt arbeiten müssen.« Er machte sich noch nicht einmal die Mühe, sie anzusehen, während er einen weiteren Schluck aus seiner Flasche nahm, mit den Zügeln schnalzte und weiterfuhr.
Victoria beobachtete, wie die Kutsche sich entfernte. Dann nahm sie den Umhang ab und setzte den Zylinder auf, der sich ebenfalls in dem Sack befunden hatte. Sie atmete tief ein und
straffte die Schultern, bevor sie beherzt durch die Eingangstür der Spielhölle trat.
Dieses Mal war alles anders, dachte sie nervös. Sie wußte, es lag daran, daß Lucas nicht da war, der immer alles wie ein großartiges Abenteuer erscheinen ließ. Der rote Schein des Feuers, das im Herd flackerte, fiel auf die rauhen Gesellen, die die Kundschaft des Grünen Schweins darstellten, und ließ sie alle wie Dämonen aus der Unterwelt erscheinen. Das harte, betrunkene Gelächter war zum Fürchten. Sie hatte das Gefühl, als könne jeden Augenblick eine gewaltige Schlägerei ausbrechen. Als sie sich der Treppe zuwandte, wurde sie von einem der Barmädchen aufgehalten.
»Sie wolln doch nich allein da rauf gehn, oder, Sir? Sie wolln bestimmt ’ne Lady, die Ihnen Gesellschaft leistet, und zufällig bin ich gerade frei.«
Victoria dachte hektisch nach. »Danke, aber ich werde erwartet.«
»Ach, so is das also, he?« Das Barmädchen zwinkerte. »Ich hab Ihren Freund hochgehn sehn. Tja, dazu sage ich nichts. Außerdem hat der Typ bereits für das Zimmer bezahlt. Viel Spaß dann. Aber wenn Sie sich überlegen sollten, daß Ihnen ’ne Frau lieber wäre, sagen Sie der alten Betsy einfach Bescheid, ja?«
Victoria starrte sie verwirrt an. »Ja, vielen Dank, das werde ich tun.«
Betsy lachte dröhnend. »Die wohlerzogenen Burschen erkennt man immer sofort. Sie vergessen noch nich mal an einem Ort wie diesem ihre Manieren.« Kichernd verschwand sie in der Menge.
Grimmig stieg Victoria die Treppe hinauf. Nach wie vor hielt sie in der einen Hand den Sack mit ihrem Kleid und in der anderen ihren Umhang.
Oben angelangt fand sie sich in einem dunklen Gang wieder. Aus den beiden Räumen, an denen sie vorbeiging, drang obszö-nes Gelächter und Stöhnen. Vor der Tür zum dritten Zimmer blieb sie stehen.
Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie vorsichtig anklopfte. Umgehend wurde ihr geöffnet.
Im Türrahmen stand Isabel
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