Verlangen
suchte ihr Gleichgewicht und sah ängstlich in Richtung des Eingangs, als dort eine Laterne auftauchte. Im fahlen Licht der Lampe sah sie die Gesichter zweier junger Raufbolde, die mit Messern bewaffnet waren. Als die beiden ihre Opfer entdeckten, kamen sie erwartungsvoll näher.
»Worauf wartest du, Long Tom?« drängte der zweite Mann seinen Kumpanen. »Zack, zack, ran an die feinen Pinkel. Heut’ nacht gibt’s viel für uns zu tun.«
Stonevale blieb regungslos stehen und schirmte so Victoria von den Angreifern ab. Sie sah, wie er einen kleinen, glänzenden Gegenstand aus der Tasche seines Mantels zog.
»Verdammt. Der hat ’ne Knarre«, fluchte der erste Mann, als das Licht der Laterne auf die Pistole in Stonevales Hand fiel.
»Gut beobachtet, meine Herren.« Stonevale klang etwas gelangweilt. »Wer von Ihnen beiden möchte meine Zielgenauigkeit testen?«
Der junge Mann, der als erster in die Gasse gestürmt war, blieb so abrupt stehen, daß sein Kumpan in ihn hineinlief. Beide stolperten in den Schlamm. Die Laterne fiel auf den Boden, und das Glas zerbarst inmitten eines Schauers kleiner Funken. Die schwache Flamme flackerte noch einen Augenblick und warf seltsame, bedrohliche Schatten auf die angespannte Szene.
»Verdammt und zugenäht«, sagte der erste Angreifer erneut, offensichtlich enttäuscht. »Da versucht man, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und guck nur, was passiert.« Er fand sein Gleichgewicht wieder und stolperte zurück zum Anfang der Gasse.
Der andere Möchtegernstraßenräuber brauchte keine weitere Aufforderung. Victoria und Lucas hörten das Klappern von Stiefeln auf Stein und ein paar gemurmelte Flüche, und kurz darauf hatten sie die Gasse für sich.
Doch Lucas verlor keine Zeit. Erneut umfaßten seine langen Finger Victorias Handgelenk, und er drängte sie durch die Gasse in die nächste Straße hinaus.
Der Pöbel war noch nicht bis hierher gelangt, so daß sie von geradezu himmlischer Ruhe empfangen wurden. Victoria versuchte, ihren Schritt zu verlangsamen und Atem zu holen, doch Stonevale weigerte sich anzuhalten, so daß sie zwar nach Luft schnappend, doch gehorsam hinter ihm her stolperte.
»Lucas, ich muß sagen, Sie haben sich äußerst tapfer geschlagen dort hinten in der Gasse.«
Lucas verstärkte seinen Griff um ihr Handgelenk. »Die ganze Aktion wäre vollkommen unnötig gewesen, wenn Sie es sich nicht in den Kopf gesetzt hätten, heute abend auf den Jahrmarkt zu gehen.«
»Wirklich, Lucas, müssen Sie -«
»Wir können nur hoffen, daß Lyndwoods Kutscher die An-
Weisungen befolgt hat«, unterbrach Lucas Victoria, während er sie mit schnellem Schritt hinter sich her zerrte.
»Ich mache mir Sorgen um Annabella und Bertie«, stieß Victoria zwischen zwei heftigen Atemzügen hervor.
»Ja. Das sollten Sie auch.«
Victoria zuckte zusammen, als sie merkte, daß er ihr bedenkenlos die Schuld an der ganzen Misere gab. Und was am schlimmsten war - er hatte recht; das Ganze war ihre Idee gewesen.
Gnädigerweise sagte Stonevale nichts mehr, während er sie um die Ecke in die Straße führte, in der die Kutsche im Notfall warten sollte. Victoria sah die vertrauten Umrisse der Lyndwoodschen Kutsche vor dem Gasthaus, und ihr entfuhr ein Seufzer der Erleichterung, als sie zwei Personen darin ausmachte.
»Sie sind hier, Lucas. Sie sind in Sicherheit.« Victoria errötete, als sie bemerkte, daß sie seit Beginn der Aufregung einfach Stonevales Vornamen benutzt hatte.
»Ja. Es scheint, als hätten wir heute nacht trotz allem noch etwas Glück.« Weiter sagte er nichts, als sie sich der Kutsche näherten.
»Gütiger Gott, wir haben uns Sorgen um euch gemacht«, sagte Lyndwood und öffnete die Tür. »Wir waren uns sicher, der Pöbel hätte euch niedergetrampelt. Schnell. Wir sollten nicht allzu lange in dieser Straße verweilen. Man kann nicht wissen, ob die Menge nicht auch noch in diese Richtung drängt.«
»Seien Sie versichert, Lyndwood, daß ich nicht die Absicht hege, hier zu verweilen.« Lucas schob Victoria in die Kutsche und folgte ihr schnell, wobei er die Tür hinter sich ins Schloß warf.
Unverzüglich setzte sich die Kutsche in Bewegung, da in der Entfernung bereits die Rufe der Menge die Nachtluft erfüllten.
Besorgt sah Victoria zu Annabella hinüber. »Bist du in Ordnung, Bella?«
Annabella ergriff die Hand ihrer Freundin. »Mir geht es gut. Bertie und ich waren am Rand der Menge, als der Ärger begann. Es gelang uns fast sofort herauszukommen. Aber ich
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