Verlangen
Jahrmarktbesucher in eine wilde, ungeordnete Horde vollzog sich innerhalb von Sekunden. Feuerwerkskörper zerbarsten, Menschen schrien, Flüche erfüllten die Luft.
Pferde bäumten sich auf und warfen sich wieder nach vorn. Eine Gruppe kleiner Jungen nutzte die Gelegenheit, ein Tablett mit Pasteten zu stehlen, woraufhin der Verkäufer hinter ihnen herrannte und Flüche gen Himmel stieß. Weitere Schreie ertönten, und mehr Feuerwerkskörper krachten. Flammen loderten auf, als eine Bude in der Nähe Feuer fing, und dann herrschte völliges Chaos; gefährliches, entsetzliches Chaos; ein Chaos, in dem Menschen niedergetrampelt, angegriffen und ausgeraubt wurden. Vielleicht würde es sogar Tote geben.
Lucas reagierte automatisch in dem Moment, in dem er den Stimmungsumschwung bemerkte. Zum zweiten Mal in dieser Nacht schloß er seine Finger in festem Griff um Victorias schmales Handgelenk.
»Hier entlang«, befahl er mit lauter Stimme, um in dem Lärm Gehör zu finden. »Folgen Sie mir.«
»Was ist mit Annabella und Bertie?« fragte Victoria.
»Sie sind auf sich gestellt, genau wie wir.«
Victoria versuchte nicht weiter zu diskutieren, wofür ihr Lucas äußerst dankbar war. Anscheinend war die Lady in der Lage, ein gewisses Maß an Verstand walten zu lassen, wenn es erforderlich war.
Während er sie mit festem Griff an seiner Seite hielt, zerrte er sie durch das Gemenge in Richtung der engen Gassen und Straßen, die an den Park angrenzten, und von denen er sich Sicherheit erhoffte.
Von Anfang an hatte er gewußt, daß ihm diese Lady nichts als Ärger bereiten würde.
3
Victoria war ganz benommen von der Gefahr, die so plötzlich über sie hereingebrochen war. In diesem Augenblick versprach einzig der eiserne Griff, mit dem sie gehalten wurde, Sicherheit. Sie folgte Lucas blind, da sie sich instinktiv auf seine Stärke verließ und auf die wilde Entschlossenheit, mit der er seinen Stock schwang, um ihnen beiden einen Weg durch die Menge zu bahnen.
Victoria spürte eine Hand, die ihren Frack packte, und erkannte, daß jemand ihren Geldbeutel stehlen wollte. Eine andere Hand versuchte, ihr den verzierten Spazierstock zu entreißen. Ohne nachzudenken, holte sie mit dem dicken Ende des Holzes aus und schlug nach den ausgestreckten Händen.
Als einer der Angreifer einen Schrei ausstieß, sah Lucas sich kurz um. Mit einem schnellen Blick erkannte er, daß die Möchtegerndiebe bereits von ihrem Opfer abgelassen hatten.
»Braves Mädchen.« Umgehend widmete er seine Aufmerksamkeit wieder dem Versuch, sich durch den Pöbel zu kämpfen.
Er versuchte nicht, sich der drängenden Kraft der Menge entgegenzustemmen. Vielmehr stellte Victoria fest, daß er die Kraft dieses Menschenstromes nutzte, indem er sich ihm anschloß. Unermüdlich kämpfte er sich an den Rand der wilden, peitschenden Masse. Trotz des Hinkens hatte er einen sicheren und kontrollierten Schritt, und er vermied es loszustürzen, um ihrer beider Gleichgewicht nicht ins Wanken zu bringen. Offensichtlich hatte er bereits vor langer Zeit gelernt, die Schwäche seines linken Beins auszugleichen.
Lucas’ kühle Selbstbeherrschung inmitten des Chaos zeigte Victoria, daß er einer der wenigen Männer war, die selbst stärkster Druck nicht aus der Fassung brachte. Bei ihm fühlte sie sich sicher, auch wenn der Pöbel wie ein brausendes Meer um sie herum toste.
Schließlich erreichten sie den Rand der schreienden, stolpernden, schiebenden Menge, und Lucas unternahm einen wohlberechneten Versuch, endgültig auszubrechen; offensichtlich hatte er nur auf seine Chance gewartet. Innerhalb eines Augenblicks hatte er Victoria in einen dunklen Tunnel zwischen zwei Gebäuden gezerrt.
Victoria stolperte ihm in die relative Sicherheit der pechschwarzen Gasse nach. Ihre Stiefel rutschten auf dem glitschigen Untergrund, und sie hielt den Atem an wegen des gräßlichen Gestanks, der sich zwischen den engen Steinwänden erhob.
Sie dachte, die Gefahr sei gebannt, als sie das rohe, betrunkene Gebrüll am Anfang der Gasse vernahm.
»Los, Kumpel. Bring die Laterne mit. Ich hab’ gesehn, wie sie in diesem kleinen Loch verschwunden sind. Ich sag’s dir. Zwei Mann. Vornehme Pinkel, wie die aussah’n.«
»Verdammt.« Lucas fluchte mit tödlicher Ruhe. »Gehen Sie hinter mich und bleiben Sie am Boden, Victoria.«
Ohne darauf zu warten, daß sie ihm gehorchte, wirbelte Lucas Victoria mit einer solchen Kraft hinter sich, daß sie gegen die Backsteinmauer der Gasse prallte. Sie
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