Verlangen
über ihre ausgestreckte Hand. Als er den Kopf hob, zeigte er ein sanftes, betörendes Lächeln. Und dann drehte er sich um, schlenderte zur Mauer und kletterte zielstrebig hinüber. Einen Augenblick später war er im Dunkel der Nacht verschwunden. Victoria zögerte noch einen Moment und fragte sich, was sie getan hatte, bevor sie das dunkle Gewächshaus betrat.
Kurze Zeit später lag sie wach in ihrem Bett und dachte, daß beim Abschied in Stonevales Lächeln zuviel Zufriedenheit, ja gar Triumph gelegen hatte.
Ich werde Sie umwerben, umschmeicheln , verführen.
Sie würde vorsichtig sein müssen, doch sie würde mit ihrem Mitternachts-Grafen fertigwerden. Sie würde lernen, wie sie mit ihm umzugehen hatte, da sie keine Wahl hatte; sie konnte seinem Angebot nicht widerstehen. Sie brauchte das, was er ihr bot.
Zum ersten Mal seit Monaten fand Victoria einen ruhigen Schlaf.
Zehn Minuten nachdem er den Garten verlassen hatte, stieg Lucas aus der Lyndwoodschen Kutsche, verabschiedete sich und stieg die Stufen zu der Stadtwohnung hinauf, die er kürzlich geerbt hatte. Sein Butler, der ebenso wie die wenigen anderen Bediensteten von Jessica Atherton angeheuert worden war, öffnete die Tür.
»Sie können alle zu Bett schicken, Griggs. Ich habe noch etwas in der Bibliothek zu erledigen«, befahl Lucas.
»Sehr wohl, Graf.«
Lucas begab sich in die Bibliothek, die mit den wenigen erlesenen Möbelstücken ausgestattet war, die sich noch im Haus befanden, und schenkte sich ein großes Glas Portwein ein. Sein verdammtes Bein schmerzte wieder. Dieses idiotische Herumgerenne auf dem Jahrmarkt und das Geklettere an der Mauer waren die Ursache.
Er fluchte lautlos und nahm einen kräftigen Schluck Portwein, da er aus Erfahrung wußte, daß dadurch das dumpfe Pochen in seinem Oberschenkel erträglicher würde.
Nicht nur sein Bein schmerzte. Auch in einem anderen Körperteil hämmerte es wegen der Begegnung mit Victoria. Er spürte ihren weichen Körper seit dem Augenblick, als er sie gegen die Gartenmauer gedrängt hatte. Ihr süßer, würziger Geruch mischte sich in seinem Kopf mit dem reichen Duft des Portweins.
Sein Blick fiel auf das Porträt, das über dem Kaminsims Hing. Langsam ging Lucas über den ausgeblichenen Teppich, um das grimmige Gesicht seines Onkels zu betrachten.
Maitland Colebrook, der vorherige Graf von Stonevale, hatte während seiner letzten Lebensjahre nicht viel zu lachen gehabt. Von Krankheit und Depressionen geplagt, hegte er eine beständige Abneigung gegen alles und jeden. Maitland hatte seinen Zorn häufig an allen ausgelassen, die sich zufällig in der Nähe befanden, so daß er beständig auf der Suche nach neuen Bediensteten war.
In jüngeren Jahren hatte Maitland Colebrook ein ausschweifendes Leben geführt, exzessiv getrunken und im großen Rahmen gespielt. Nachdem der Großteil seines bereits durch seinen Vater erheblich geschmälerten Erbes verschleudert war, hatte er sich zurückgezogen.
Er war zum exzentrischen Einsiedler geworden, ohne Kontakte zu Londoner Bekannten oder Verwandten. Er hatte sich aufs Land zurückgezogen, um von dem, was von seinen Gütern übrig war, zu zehren. Er hatte nie geheiratet, und als vor einigen Monaten das Ende nahte, hatte er widerwillig seinen Erben kommen lassen, einen Neffen, den er kaum kannte.
Lucas erinnerte sich sehr gut an die Unterhaltung. Das düstere Schlafzimmer mit den vermoderten Vorhängen und schäbigen Möbeln machte einen direkt angenehmen Eindruck, verglichen mit Maitland Colebrook, der vertrocknet und bleich, mit einer Flasche Portwein und einer Flasche Laudanum neben sich, in einem alten Eichenbett saß.
»Das gehört alles dir, Neffe, jeder verfluchte Zentimeter von Stonevale. Wenn du einen Funken Verstand besitzt, gehst du fort und läßt es verrotten. Diese Ländereien haben noch niemandem jemals Glück gebracht«, röchelte er, während er seine knochigen Finger in eine schmutzige Decke krallte und Lucas kalt anstarrte.
»Vielleicht hat es nur niemand für nötig gehalten, Zeit und Geld in sie zu investieren«, erwiderte Lucas verbittert. Jeder
Narr konnte sehen, daß Stonevale ungeahnte Möglichkeiten eröffnete. Das Land war fruchtbar; man könnte es wieder kultivieren.
Geld war das Elixier, mit dem Stonevale zu neuem Leben erweckt werden könnte; Geld und ein Graf, der sich um Land und Leute sorgte.
»Es hat keinen Sinn, Geld in Stonevale zu stecken. Der Ort ist verflucht, ich sage es dir. Frag nur die Leute in der
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