Verlangen
Richtung der Kutsche und sog scharf die Luft ein, als sein linkes Bein erneut nachzugeben drohte. Er rief sich das Bild der Portweinflasche ins Gedächtnis, die in seiner Bibliothek auf ihn wartete. »Fahren wir los. Ich beabsichtige nicht, um diese Zeit noch lange auf der Straße herumzustehen.«
»Sicher, Sir. Ich möchte Ihnen nur noch sagen, daß ich noch nie jemanden von Ihrem Stand getroffen hab’, der bei einem Straßenkampf so gut zurecht kommt. Die meisten der bess’ren Herrn, die ich ’rumkutschiere, wär’n wohl mit ’ner aufgeschlitzten Kehle geendet.«
Victoria schlich zurück in ihr Zimmer und schloß die Tür. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich an die Holzvertäfelung. Ihr Herz raste und sie hatte das Gefühl, als würden ihre Beine versagen.
Sie hatte es getan.
Es hatte mehr Mut erfordert, als sie gedacht hatte, mehr, als sie sich jemals zugetraut hätte, aber sie hatte es getan. Sie würde eine Affäre mit Lucas Mallory Colebrook, dem Graf von Stonevale haben.
Ihre Hände zitterten, als sie mit leicht unsicheren Schritten durch das Zimmer ging, um durch das Fenster in die Dunkelheit zu sehen.
Nun, da sie nach tagelangem, zermürbendem Grübeln ihr Ziel erreicht hatte, entdeckte sie, daß sie Angst hatte. Es lauerten so viele Gefahren auf sie und auch auf Lucas.
Doch die Chance, ihre Leidenschaft in Lucas’ Armen zu entdecken, war jedes Risiko wert.
Was für ein bewundernswerter Mann. Er war weder ein dummer, affektierter Dandy noch ein gefühlloser Lebemann. Er sorgte sich um ihren Ruf, doch zugleich akzeptierte er ihren Wunsch, nicht zu heiraten. Es schien, als habe er es nicht auf ihr Vermögen abgesehen, sondern einzig und allein auf sie.
»Lieber Gott, es scheint, als sei ich in den Mann verliebt.« Victoria hielt den Atem an, als die Erkenntnis sie plötzlich überkam. »Ich liehe diesen Mann.«
Angesichts dieses neuen Abenteuers schlang sie die Arme um sich. Zu lieben und dennoch frei zu sein. Was könnte sich eine Frau mehr wünschen?
Lange Zeit stand sie am Fenster und versuchte, die Zukunft in der Dunkelheit zu sehen. Doch alles erschien wolkig und ohne feste Form. Nach einer Weile ging sie zu Bett.
Im Morgengrauen erwachte sie plötzlich aufrecht in ihren Kissen sitzend.
Teufelsweib. Ich werde dich zurück in die Hölle schicken.
Das Messer.
Großer Gott, das Messer.
Sie erinnerte sich nur bruchstückhaft an den Alptraum, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte, aber sie brauchte keine Einzelheiten. Oft genug während der letzten Monate hatte sie ähnliche Träume gehabt, und sie endeten alle gleich, ließen sie ruhelos und verstört zurück, erfüllten sie mit einem Gefühl dunkler, lastender Bedrohung, das sich nicht erklären ließ.
Zumindest hatte sie dieses Mal nicht geschrien, dachte sie erleichtert. Gelegentlich schrie sie mitten in ihren entsetzlichen Träumen, und die arme Nan kam dann herübergelaufen, um zu sehen, ob alles in Ordnung war.
Victoria stand auf. Sie wußte aus Erfahrung, daß das Tageslicht dieses beunruhigende Gefühl vertreiben würde. Bis dahin hatte es keinen Sinn, wenn sie versuchte, wieder einzuschlafen.
Sie griff nach ihrer Decke. Es war ein klarer Tag, und bald würde das Gewächshaus vom Morgenlicht durchflutet. Ein perfekter Tag zum Zeichnen. Wenn alles andere versagte, fand sie immer noch Ruhe in der Kunst.
Sie zog sich schnell an und eilte die Treppe hinunter. Das Haus begann gerade zu erwachen. Sie konnte hören, wie die Köchin in der Küche mit den Töpfen klapperte.
Die Staffelei, der Farbkasten und die Skizzenbücher lagen genau dort, wo sie sie zurückgelassen hatte. Einen Augenblick lang sah sich Victoria im Gewächshaus um, und dann fiel ihr Blick auf die leuchtenden Blüten der Strelitzia reginae.
Im sonnigen Morgenlicht schimmerte die Blume wunderbar goldgelb in einem herrlichen Bernsteinton, versetzt mit königsblauen Sprenkeln.
Schnell rückte sie ihre Malutensilien an eine Stelle, von der aus sie die Strelitzia gut sehen konnte. Sie erinnerte sich daran, wie Lucas die Pflanze bei seinem ersten Besuch im Gewächshaus bewundert hatte.
Sie würde sie für ihn malen, beschloß sie einem plötzlichen
Impuls folgend. Ihre Pflanzenaquarelle und Skizzen schienen ihm ehrlich gefallen zu haben, und es bestand keinerlei Zweifel an seiner neuen Begeisterung für Gartenbau. Vielleicht würde ihm die Strelitzia reginae als Erinnerung an ihre erste gemeinsame Nacht als Liebende gefallen. Das Bild würde ihr Geschenk für
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