Verlangen
später fuhr die Kutsche durch die Straßen von London, und nach kurzer Zeit hatten sie die ruhigeren Außenbezirke der Stadt erreicht. Der Straßenlärm verblaßte, und die Bebauung wurde spärlicher. Das Mondlicht fiel auf Wiesen, Felder und Bauernhöfe.
Dann, ohne Warnung, hielt die Kutsche im Hof eines Gasthauses. Victorias Mund wurde trocken. Der Moment war gekommen, und plötzlich wurde sie von einer Woge widersprüchlichster Gefühle überschwemmt. Vorfreude, Aufregung und Verlangen kämpften mit Angst, Unsicherheit und plötzlichen Bedenken. Sie mußte sich erneut fragen, ob sie wohl das Richtige tat.
Aber schließlich war sie vierundzwanzig, und kein siebzehnjähriger junger Hüpfer, der eben erst der Schulbank entsprungen war. Sie war selbstbewußt, und sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Nun würde sie keinen Rückzieher machen.
Sie sah hinaus auf den Hof und hörte, wie ihr »Kutscher« dem Jungen Anweisungen gab, der aus dem Gasthaus gekommen war, um ihm mit den Pferden zu helfen. Was für Anweisungen Lucas auch gab, es klang immer, als hätte er alles im Griff.
Einen Augenblick später wurde die Tür der Kutsche geöffnet und Lucas sah zu ihr herein. Er hatte den Hut und den Umhang abgelegt. Wortlos reichte er ihr seine Hand.
»Bist du ganz sicher, daß es das ist, was du willst, Victoria?« fragte er ruhig.
»Ja, Lucas. Ich will diese Nacht mit dir mehr als alles andere.«
Sein Lächeln war rätselhaft, doch zärtlich. »Dann sollst du sie auch haben. Komm mit.«
Kurz darauf saß Victoria in einem gemütlichen Raum vor einem wärmenden Feuer und nippte an dem Tee, den ihr die Wirtin auf einem Tablett gebracht hatte. Neben der Teekanne befand sich eine Karaffe mit Sherry. Die gute Frau hatte sie mit »gnädige Frau« angesprochen, da Lucas den Wirtsleuten erklärt hatte, sie sei seine Gattin. Niemandem war es in den Sinn gekommen, die Ehrenhaftigkeit der Beziehung dieser beiden offensichtlich wohlhabenden Mitglieder der besseren Gesellschaft in Frage zu stellen.
»Ich habe dem Wirt erzählt, du seist erschöpft, und wir würden uns gern ein paar Stunden ausruhen. Da wir jedoch in Eile seien, müßten wir noch vor Morgengrauen weiterfahren«, verkündete Lucas, als er das Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloß. »Auf diese Weise habe ich genug Zeit, um dich sicher zurück auf das letzte Fest auf deiner Einladungsliste zu fahren, bevor die letzten Gäste gegangen sind. Du wirst wie geplant mit Annabella Lyndwood und ihrer Mutter nach Hause zurückkehren können, und niemand wird etwas erfahren.«
»Nun denn, vielleicht erfahre ja zumindest ich etwas Neues.« Victoria lächelte zaghaft über den Rand ihrer Tasse hinweg.
Lucas’ Blick wurde sanft, als er auf sie herabsah. »Ich denke, wir werden beide heute nacht eine Menge in Erfahrung bringen.« Er ging hinüber zu dem Stuhl, der dem ihren gegenüber am Ofen stand. Seine Augen glänzten, als er sich setzte und zwei Gläser mit Sherry füllte. »Auf unsere wissenschaftliche Studie, Vicky.«
Sie setzte ihre Teetasse ab und nahm eines der Sherrygläser entgegen, wobei sie bemerkte, daß ihre Hand ein wenig zitterte. »Auf wissenschaftliche Studien«, murmelte sie und hob ihr Glas zu einem kleinen Toast.
Lucas erhob ebenfalls sein Glas, wobei er seine Augen nicht von ihr abwandte. Sie tranken den Sherry in gespanntem Schweigen, bis Lucas Victoria das Glas aus der Hand nahm und es neben seinem auf den Tisch stellte.
Victoria fiel ihr Geschenk ein. Sie erhob sich abrupt und eilte zu der Ecke, in der ihr Umhang und ihr Beutel hingen.
»Vicky? Was ist los?« rief Lucas ihr nach.
»Nichts. Ich habe etwas für dich. Ein kleines Geschenk.« Sie wandte sich ihm wieder zu, wobei sie das schmale Päckchen mit beiden Händen umklammerte. Plötzlich erschien ihr das Geschenk recht ärmlich. »Es ist nichts Besonderes, wirklich. Ich dachte, hoffte, es würde dir gefallen.« Sie lächelte wehmütig. »Die heutige Nacht scheint mir der Art zu sein, daß man sich vielleicht mit einem Geschenk daran erinnern möchte.«
Langsam erhob er sich. »Es ist genau eine Nacht dieser Art. Ich wünschte lediglich, ich hätte ein Geschenk für dich. Mein jämmerliches Soldatenhirn, fürchte ich. Ich war so mit den praktischen Aspekten des heutigen Abends beschäftigt, daß ich versäumt habe, an andere, vielleicht bedeutendere Dinge zu denken.« Er ging auf sie zu und nahm das Päckchen aus ihren Händen. Dann geleitete er sie zurück zu ihrem Stuhl am Feuer
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