Verletzlich
Wunder, dass er so verbittert hinter dir her ist.«
Ich traute meinen Ohren kaum. »Meint ihr das ernst? Ich hätte dort einfach still liegen und ihn gewähren lassen sollen? Mich geehrt fühlen, dass mir jemand die Kehle aufreißt?«
»Du hast es erfasst«, bestätigte Donne. »In den Augen eines hochrangigen perdus hast du dich unfair verhalten. Ein Mensch, ein junges Mädchen, schlägt ein so weit über ihm stehendes Wesen? So etwas ist unerhört.«
Jetzt blieb ich stehen. »Ihr klingt fast so, als würdet ihr dem zustimmen.«
Sie drehten sich zu mir um. »Es tut uns leid, Emma«, versuchte Lena die Wogen zu glätten. »Wir wollten dich nicht verletzen. Aber es ist … so lange her.«
»Was ist so lange her?«
»Dass jemand es gewagt hat, sich zu wehren«, antwortete Donne.
Wir saßen auf der Mauer des maison de pierres .
»Die Kehle«, erklärte Lena, »ist ein Instrument. Und sie hat so viel mehr Aufgaben, als nur für Stimme und Ton zu sorgen. Sie ist – unter Verwendung des champs natürlich – eine Art Überträger. Sie überträgt Gedanken, sogar Gefühle. Sie ist ein Kommunikator. Die perdus sind hauptsächlich auf Aggression, auf rohe Gier und Misstöne eingestellt. Sie benutzen nur ein sehr schmales Spektrum der unermesslichen Möglichkeiten des champ . Aber die Wirkung ist enorm.«
»Man könnte sagen, ihre Frequenz ist die Angriffslust«, meldete sich Anton zu Wort. Er hatte sich mit den Händen unter dem Kopf auf den Rücken gelegt und die Augen geschlossen.
»Was ist mit den soleils? «, fragte ich. »Was ist eure Frequenz?«
Einen Moment schien Lena über die Antwort nachzudenken. »Vielleicht bist du inzwischen bereit.«
»Wofür?«
»Die gorge kennenzulernen.«
Lena und ich saßen jetzt nebeneinander auf dem Schornstein des Steinhaus-Hotels und ließen den Blick über die Lichter im Tal schweifen. Derselbe Schornstein, von dem ich in der Nacht, als ich ihnen zum ersten Mal begegnet war, hinuntergeschrien hatte. Hier oben war gerade genug Platz für uns zwei.
Die beiden anderen Vampire hatte Lena in die Höhle zurückgeschickt. Anscheinend hatte sie Bedenken, dass es mir unangenehm sein würde, wenn sie zuschauten.
»Es ist gut, hier oben zu sein«, sagte sie. »Hoch oben, wo auch die größeren champs von Bäumen, dem Boden und ähnlichen Dingen nicht dominieren. Lass uns beginnen … Das champ kann mit Worten gar nicht vollständig beschrieben werden. Man muss es erfahren.«
»Und wie geht das?«, erkundigte ich mich.
»So neu, wie du bist«, seufzte Lena, »bin ich mir nicht sicher, dass dir die Antwort gefällt.«
»Lassen wir es drauf ankommen.«
»Gut.«
Lena streckte die Hand aus und drückte mit allen fünf Fingern an meinen Hals, als wollte sie mich würgen. Überrascht wich ich ein wenig zurück, doch sie ging so sanft vor, dass ich mich nicht bedroht fühlte. Allerdings spürte ich noch etwas anderes. Ich konnte es nicht benennen, aber vom ersten Moment, als sie meine Haut berührte, strahlte von dort ein Kribbeln in meinen Körper aus.
»Wie gesagt, das Erste und Wichtigste, das du wissen musst, ist, dass die gorge , die Kehle, sacré ist. Heilig. Der heiligste Teil des Körpers. Viele behaupten, das Heiligste sei das Herz, aber das stimmt nicht und dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen sitzt in der Kehle die Stimme … Sag etwas.«
»Was soll ich sagen?«
»Gut, das war jetzt laut gesprochen. Jetzt sag es nicht laut, sondern lass den Mund geschlossen und sprich tief in deiner gorge . Tief in der Kehle.«
Ich war mir nicht sicher, was sie damit meinte, probierte es aber dennoch aus. Was soll ich sagen? Es fühlte sich komisch an und der Ton, der aus meinem Hals kam, klang wie das Geräusch eines Monsters aus einem billigen Horrorfilm.
»Der Klang ist nicht wichtig«, beruhigte mich Lena. »Mit der Zeit kannst du ihn immer besser kontrollieren. Entscheidend ist die Schwingung. Wenn du das champ kontrollieren willst, musst du lernen, es durch die Schwingungen der gorge zu kontrollieren. Versuch es noch mal.« Ihre Hand lag nach wie vor auf meinem Hals.
Mit geschlossenem Mund wiederholte ich die Worte tief in meiner Kehle und hatte bereits weniger Hemmungen.
»Hast du es gemerkt?«, fragte Lena. »Ich konnte deine Worte mit den Fingern fühlen, genauso wie ich sie sonst mit den Ohren höre. Außerdem – mehr noch als auf den Lippen oder im Mund – sind in der Kehle Liebe und Leidenschaft beheimatet. Nicht wenige behaupten, dass der Kuss nur
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