Verletzlich
doch das Shoppingcenter würde frühestens in zwei Stunden die Tore öffnen.
Inzwischen hatten Polizisten und Sicherheitsleute auch diese Etage erreicht; immer lauter konnte ich die Funkgeräte und das Klappern ihrer Schuhe hören. Mein Gott, wie viele Leute brauchten sie für ein siebzehnjähriges Mädchen? Ich fühlte mich abermals in die Ecke gedrängt und begann unwillkürlich zu knurren.
Wie bin ich eigentlich drauf? , dachte ich. Du bist die Böse, nicht sie. Sie machen nur ihren Job.
Ich wollte sie nicht verletzen, aber womöglich blieb mir nichts anderes übrig, wenn sie noch einmal mit Tasern auf mich schossen. Verzweifelt sah ich mich nach einem Ausgang um, nach einem Versteck, als ich über mir ein riesiges Oberlicht, eine Kuppel aus buntem Glas, entdeckte. Das war’s.
Ich steckte meine Sonnenbrille ein, hängte mir die Taschen über die Arme und nahm abermals Anlauf. Als ich mich genau unter der Kuppel befand, ging ich in die Knie und drückte mich ab – mit geschlossenen Augen und den Rücken zum Schutz gekrümmt. Ich barst durch das Glas – die Bleirahmen zwischen den einzelnen Scheiben waren härter als gedacht – und flog dann wie eine Rakete in die Luft.
Die Landung auf dem nassen, unebenen Dach war hart. Ich atmete japsend, der Taser hatte mir mehr zu schaffen gemacht als zunächst angenommen. Selbst in dem Regenwetter fühlte ich mich geblendet. Ich rappelte mich auf, streckte mich und zog schnell die Sonnenbrille wieder hervor. Dann sah ich mich um. In dem Oberlicht klaffte jetzt ein riesiges Loch in der Größe eines Spielplatzkarussells. Daraus drang ein Brüllen herauf.
Ich sollte mich sputen. Nachdem ich abermals meine Taschen zusammengesammelt hatte, sprintete ich ans Ende des Daches und warf einen Blick nach unten. Dort standen mehrere Polizeiwagen und zwei Autos, auf denen SICHERHEITSDIENST stand. Aber sie parkten auf der anderen Seite und niemand schien darin zu sitzen.
Eine Leiter zu suchen, dauerte mir zu lange. Deshalb sprang ich über die Kante und fiel ganze drei Stockwerke in die Tiefe. Mit einem gewaltigen Rumms landete ich auf dem Hintern in einem offenen Müllcontainer inmitten von leeren Schachteln und raschelndem farbigem Seidenpapier. Zum Glück war es nicht der Container am Restaurantbereich. Ich wühlte mich daraus hervor und machte mich so schnell wie möglich auf den Weg zurück zum Raumfahrtzentrum.
Als ich dort ankam, hatte der Regen aufgehört und die Sonne schien wieder. Die Landschaft dampfte. Nachdem ich alle Taschen und Tüten auf den Turm geschleppt hatte, ruhte ich mich ein wenig in dem schäbigen Raum aus, naschte von den Süßigkeiten und betrachtete meine Beute.
Dann dachte ich darüber nach, was mein Großvater wohl von mir denken würde, und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Einbruch. Diebstahl. Beschädigung fremden Eigentums Widerstand gegen die Behörden. Was käme als Nächstes? Körperverletzung?
In rasantem Tempo entwickelte ich mich zu der Sorte Mensch, die Papi gern hinter Schloss und Riegel sehen würde. Ich nahm mir ganz fest vor, mich demnächst besser zu kontrollieren, obwohl mir das zugegebenermaßen in der Vergangenheit nie besonders gut gelungen war. Ich erinnerte mich daran, wie ich mich beim Anheben des Kühlschranks gefühlt hatte. Überlegen, hochnäsig. Vielleicht war das alles Teil der Verwandlung in einen Vampir, aber es schien meine schlimmsten Schwächen noch zu nähren.
Das Leben ohne Regeln war komplizierter, als zunächst angenommen.
Den Rest des Tages verbrachte ich damit, meine Verteidigungsanlage zu verbessern, während ich darauf wartete, dass die NASA -Angestellten das Gelände wieder verließen.
Nach der aufregenden Verfolgungsjagd am Morgen fühlte ich mich noch immer unruhig und überdreht. Was unter Umständen aber auch daran lag, dass ich seit geraumer Zeit Nusskaramell, Brezel und Schokoladenkekse in der Größe von Frisbee-Scheiben in mich hineinstopfte.
Zu gern hätte ich meine neuen Sachen angezogen, aber ich war vollkommen verdreckt. Als ich die letzten Angestellten in ihre Autos steigen sah, suchte ich mir einige Kleidungsstücke aus, nahm Seife und ein sündhaft dickes weinrotes Handtuch und machte mich auf den Weg zum Bunker. Ich konnte es kaum abwarten, meinen Schlafanzug auszuziehen. Zehn Minuten später, strahlend sauber und mit Jeans und einem leichten orangefarbenen Top bekleidet, fühlte ich mich viel besser. Doch irgendwie war es noch nicht genug.
Etwas fehlte.
»Geh weg!«, rief
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