Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
zusammengeschlagen.«
Ein Lastwagen fädelt vor ihm auf die linke Spur über. Bjarne gibt ihm Lichtzeichen und hupt.
»Warum?«
»Die Mutter ist sich nicht ganz sicher. Es kam ganz plötzlich. Remi hat wohl ein Glas umgestoßen, und sein Vater hat von ihm verlangt, sich wenigstens zu entschuldigen. Da ist er ausgetickt.«
»Wegen eines Wasserglases?«
Der Lastwagen ist immer noch vor ihm.
»Frag mich nicht. Es hört sich jedenfalls nicht gerade nach einem harmonischen Familienleben an.«
Bjarne öffnet das Fenster und befestigt das Blaulicht auf dem Dach, obwohl er weiß, dass er sich dafür eigentlich erst eine Genehmigung einholen müsste. Es dauert einen Augenblick, bis der Lastwagen sich zur Seite schiebt. Bjarne gibt Gas und wirft dem Fahrer einen langen Blick zu, ehe er weiterrast. Sekunden später zeigt der Tacho 150 Stundenkilometer an.
»Wir brauchen Leute bei seinen Eltern«, sagt er.
»Ich glaube, das ist schon geregelt.«
»Ich bin noch sieben, acht Minuten von Jessheim entfernt.«
»Das ist gut.«
Bjarne biegt am ersten Kreisverkehr in Jessheim rechts ab, fährt an der Bank vorbei und kommt vor der Brücke in einen weiteren Kreisverkehr. Von dort aus fährt er ins Industriegebiet, versucht, zwischen den Abzweigen und Verkehrsschikanen immer wieder Gas zu geben, bis er erneut ein Wohngebiet erreicht. Er folgt den Angaben seines Navis und sieht schließlich den Streifenwagen der Polizei Romerike vor einem rot gestrichenen Haus stehen. Bjarne parkt neben dem Einsatzfahrzeug und sieht zu Henning hinüber.
»Du bleibst hier! Wenn du Anstalten machst auszusteigen, dann …« Sein Zeigefinger ist dicht vor Hennings Gesicht.
»Ist ja gut.«
Dann springt Bjarne aus dem Wagen. Weist sich aus. »Es scheint niemand zu Hause zu sein«, sagt einer der Beamten.
»Haben Sie geklingelt?«
»Ja, aber es hat keiner aufgemacht.«
Bjarne mustert die Fenster, achtet auf Bewegungen und lauscht. Das Garagentor steht offen. Ein Kinderwagen und ein kleiner roter Traktor stehen davor. Über den Kies zieht sich ein grüner Gartenschlauch.
»Da«, sagt Bjarne auf einmal.
»Was ist?«, fragt einer der Polizisten.
»Die Gardine in dem kleinen Fenster hat sich bewegt. Es ist doch jemand zu Hause.«
»Und warum machen sie dann nicht auf?«
»Ich versuche noch einmal, sie anzurufen«, sagt er, nimmt sein Handy heraus und lässt es lange klingeln.
Dann ist das Klingeln plötzlich weg, und er hört statisches Knistern.
»Hallo?«, sagt Bjarne.
Keine Antwort am anderen Ende.
»Hier ist Bjarne Brogeland von der Polizei, mit wem spreche ich?«
Wieder nur Stille.
Dann: »Verschwinden Sie!«
Bjarne läuft ein Schauer über den Rücken.
»Remi«, sagt Bjarne, und seine Stimme klingt belegt. »Sind Sie das?«
»Verschwinden Sie einfach!«
Was er hört, gefällt Bjarne ganz und gar nicht.
Bjarne nennt Remi bei seinem vollen Namen, bekommt aber keine Antwort.
»Ist Emilie da?«, fragt er als Nächstes.
Stille.
»Emilie ist nicht hier«, sagt die Stimme schließlich.
»Ich weiß, dass sie da ist, Remi. Ich würde gerne mit ihr reden.«
»Nein.«
Pause.
Ihm ist warm geworden.
»Sagen Sie mir wenigstens, ob sie in Ordnung ist.«
Keine Antwort.
»Remi«, beginnt Bjarne, doch sofort wird er unterbrochen.
»Vergessen Sie’s, und versuchen Sie nicht, ins Haus zu kommen, sonst schieße ich.«
Bjarne muss die Mitteilung erst einmal verdauen, ehe er antwortet. »Was sagen Sie da, Remi?«
»Ich habe eine Waffe, und ich werde nicht zögern, sie zu benutzen. Kommen – Sie – nicht – rein!«
Dann legt er auf.
75
Trine Juul-Osmundsen sieht auf die Uhr und atmet tief durch. Nur noch wenige Stunden, bis sie dem Wolfsrudel gegenübertritt. Sie hat versucht aufzuschreiben, was sie sagen will, aber ihre Finger sind wie über der Tastatur eingefroren. Sie kann keinen einzigen vernünftigen Gedanken formulieren und starrt nur auf den Bildschirm, der leer zurückstarrt. Sie fühlt sich wie in einem Vakuum.
Sie ist ihre E-Mails durchgegangen, hat aber glücklicherweise keine weitere Nachricht von luege0910 bekommen. Das passt zu ihrer Schlussfolgerung von heute Morgen. Der Absender weiß, dass es keinen Sinn hat, ihr Mails zu schicken, solange sie sie nicht lesen oder beantworten kann.
Es klopft. Katarina Hatlem steckt den Kopf zur Tür herein. »Du wolltest mich sprechen«, sagt sie und tritt ein. Das lange, rotlockige Haar umschmeichelt ihr Gesicht.
»Ja. Schließ bitte die Tür«, sagt Trine.
Katarina kommt
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