Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
schwarzen Couchtisch. Er nimmt es, schaut aufs Display und lässt es klingeln. Aber sie sieht, dass ihm das penetrante Geklingel mehr und mehr auf den Geist geht. Mit einer abrupten, ungelenken Bewegung drückt er den Anruf weg und feuert das Telefon in die Ecke.
Dann setzt er sich auf einen Stuhl. Reibt sich mit den Fingerspitzen über die Schläfen. Etwas huscht über sein Gesicht. Ein Ausdruck oder ein Gefühl, Emilie weiß es nicht genau, aber ihr gefällt gar nicht, was sie sieht.
Er versucht verzweifelt, klar zu denken.
Es ist nicht so einfach.
Eigentlich hatte er nicht vorgehabt zu tun, was er gerade tut. Er weiß nicht einmal, was er mit Emilie anstellen will. Vielleicht kann er sie dazu bringen, ihn um Entschuldigung zu bitten. Aber das muss sie dann auch so meinen. Er will, dass sie versteht .
Hätte er doch nur mehr von diesen Pillen, die er vor dem Besuch bei Johanne genommen hat. Die alle Gefühle ausschalten. Jetzt spürt er sie, die Schmerzen in seiner Hand und im Kopf. Es fühlt sich an, als rückten die Wände immer näher, um ihn zu zermalmen.
Also, was tun?
Was tust du jetzt?
Er sieht sich um. Seine Augen bleiben an dem ausgestopften Rentierkopf hängen. Die Augen sind dunkel und glänzend. Als wäre noch immer Leben in ihnen.
»Gehst du jagen?«, fragt er, an Mattis gewandt.
Mattis nickt zögernd.
»Dann hast du doch bestimmt auch eine Waffe, oder?«
73
Bjarne flucht innerlich. Emilie Blomvik geht noch immer nicht ans Telefon. Sie hat seinen Anruf sogar weggedrückt.
So schnell wie nur möglich fährt er in Richtung Verteilerkreuz. Raus aus Oslo.
Während er wie ein Verrückter zwischen den Autos hindurchmanövriert, klemmt er sich das Headset hinters Ohr und ruft wieder Fredrik Stang an. »Hast du in Romerike jemanden erreicht?«
»Ja, die schicken sofort einen Streifenwagen zu ihr.«
»Nur einen?«
»Mehr steht im Moment nicht zur Verfügung.«
Bjarne verdreht die Augen. »Ich bin selbst auf dem Weg dorthin. Hast du mehr über diesen Remi Gulliksen herausgefunden?«
»Ja, ein bisschen was: Er ist in Jessheim geboren und aufgewachsen, wohnt jetzt aber in einer kleinen Wohnung in Tøyen.«
»Ist jemand zu ihm unterwegs?«
»Ja, Gjerstad hat hier alles in Bewegung gesetzt.«
»Gut.«
»Remis Wohnung soll übrigens heute zwangsgeräumt werden.«
»Ach was?«
»Ja, das kann natürlich das eine oder andere in ihm ausgelöst haben.«
»Halt mich auf dem Laufenden!«
»Mach ich.«
Es gelingt Bjarne auf halsbrecherische Weise, trotz des dichten Verkehrs aus Oslo rauszukommen. Er ruft die Auskunft an und bittet darum, mit dem Kindergarten Nordby verbunden zu werden. Dort erfährt er, dass Sebastian Blomvik heute noch nicht in den Kindergarten gekommen ist.
Bjarne wählt erneut Emilies Nummer. Dieses Mal schaltet sich sofort die Mailbox ein.
»Verdammt!«
Er gibt noch mehr Gas.
Emilie Blomvik.
Sie war seine erste, seine einzige Liebe. Wenn er jetzt darüber nachdenkt, weiß er nicht mehr, warum er sie so sehr geliebt hat. Nur, dass er sie geliebt hat.
Er kann es nicht erklären. Vielleicht weil sie ihm das Gefühl gegeben hat, gemocht und wertgeschätzt zu sein. Weil er gespürt hat, dass sie in ihn verschossen war. Und weil sie das auch sagte, weil sie stolz auf ihn war, ihn als wunderbar bezeichnete. So etwas hatte ihm noch nie jemand gesagt.
Natürlich hat es nicht gehalten. Darauf hat Emilie es damals auch gar nicht abgesehen, dafür fehlte ihr die innere Ruhe. Sie wollte immer nur raus, weg, auf die nächste Party und Spaß haben, während er am liebsten mit ihr allein gewesen wäre. Als die Gerüchte über Markus und sie zu kursieren begannen, wollte er es erst nicht glauben. Er verdrängte die Realität.
Bis es irgendwann nicht mehr ging.
Emilie war seine erste, seine einzige Liebe. Es war unmöglich, die Erinnerung an sie auszulöschen. Keine konnte sich mit ihr messen.
Es hat mit Emilie begonnen, und es soll mit Emilie enden.
Da klingelt es an der Tür.
Remi zuckt ebenso zusammen wie Emilie und ihr Lebensgefährte. Beide wollen um Hilfe rufen, aber Remi hebt das Gewehr an und zielt auf sie.
»Keinen Ton. Keine Bewegung.«
74
Bjarne hat Oslo gerade hinter sich gelassen, als sein Telefon klingelt.
»Ja?«
Es ist Ella Sandland. »Ich habe gerade mit der Mutter von Remi Gulliksen gesprochen«, sagt sie. »Remi war am Dienstagabend bei ihnen zu Hause. Anscheinend ist er auch da Amok gelaufen.«
»Amok? Inwiefern?«
»Er hat seinen Vater
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