Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
ihrem Wunsch nach und tritt näher an den Schreibtisch heran. Normalerweise ist ihr Auftreten energischer. Ihr Gesicht aufmerksamer. Jetzt ist es verändert. Als hätte sie geweint oder die letzten Nächte schlecht geschlafen.
»Wie geht es dir?«, fragt Hatlem vorsichtig.
»Setz dich.«
Katarina zögert eine Sekunde, ehe sie der Aufforderung nachkommt.
»Ich habe in den letzten Tagen viel nachgedacht«, beginnt Trine. »Das heißt, bis ich gestern nach Hause gekommen bin, bin ich nicht wirklich zum Nachdenken gekommen. Es war – wie soll ich es sagen – neben den schlimmen Gedanken nicht viel Raum für irgendetwas anderes in meinem Kopf.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagt Katarina und nickt mitfühlend.
»Aber heute Morgen kam mir dann etwas in den Sinn.« Trine trommelt mit den Fingern auf der Arbeitsplatte. »Derjenige, der diese Hetzkampagne gegen mich in Gang gesetzt hat, muss gewusst haben, dass ich nicht mit einer Verteidigungsrede kommen würde. Er oder sie muss gewusst haben, dass ich nicht an die Öffentlichkeit gehen kann mit dem, was ich wirklich am Abend des 9. Oktober letzten Jahres gemacht habe. Das bedeutet, dass der oder die Betreffende gewusst hat, dass ich zu dem Zeitpunkt in Dänemark war und was es für mich bedeuten würde, wenn die Wahrheit herauskäme.«
Katarina senkt den Blick.
»Ich habe mich einer einzigen Person anvertraut«, sagt Trine und bohrt ihren Blick in ihr Gegenüber. »Der Person, die sich um alles Praktische gekümmert hat. Und diese Person, liebe Katarina, bist du.«
Katarina starrt schweigend zu Boden.
»Entweder steckst du selbst hinter der Sache, oder du hast jemandem erzählt, was ich getan habe.« Trine kommt einem eventuellen Protest zuvor. »Du hast jetzt die Gelegenheit – und nur diese eine –, dich zu erklären. Und komm mir nicht mit Ehrenwort, ich war das nicht. In irgendeiner Art und Weise musst du etwas damit zu tun haben, da außer dir niemand davon wusste.«
Katarina hält den Kopf gesenkt, doch Trine sieht trotzdem, wie ihr die Röte ins Gesicht schießt. Es dauert nicht lange, bis ihre Mundwinkel zu zucken beginnen.
»Ich schwöre«, schluchzt sie, »ich hätte niemals gedacht, dass es so weit kommen würde.«
»Ach, hast du das nicht gedacht?«, höhnt Trine. »Kaum einer kennt die Medien besser als du, Katarina. Du weißt ganz genau, wie du sie manipulieren musst.«
Sie schüttelt hektisch den Kopf. »So war es nicht! Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich schwöre dir, Trine, dass ich nichts mit der Sache zu tun habe.«
»Dann schlage ich vor, dass du mit deiner Erklärung anfängst. In weniger als zwei Stunden beginnt die Pressekonferenz.«
Katarina bricht in Tränen aus und bleibt eine Weile zusammengesunken sitzen, bis Trine sie auffordert, sich zusammenzureißen.
»Verzeih mir«, stammelt Katarina leise und schließt die Augen. »Es tut mir so leid.«
Trine antwortet nicht, sie sieht ihre engste Mitarbeiterin der letzten Jahre nur an. Sie hat diese Frau als ihre Freundin betrachtet. Und sie ist erstaunt über die warmen Gefühle, die sie für sie empfindet. Aber ihr Verhalten ist unverzeihlich. Und das, was zwischen ihnen kaputtgegangen ist, kann nicht wieder gekittet werden.
»Ich warte«, sagt sie schließlich und schiebt das Kinn vor.
Katarina Hatlem zieht die Nase hoch und wischt sich mit den Fingern über die Augen. Als sie zu reden beginnt, ist das Zittern aus ihrer Stimme verschwunden.
Trine hat geglaubt zu wissen, wie weh es tut, von einem nahen Menschen verletzt zu werden. Der dumpfe Schmerz, der von kurzen, pulsierenden Stichen durchbohrt wird, Worte, die Schmerzsplitter ins Herz treiben und einem alle Luft aus der Lunge pressen. Sie dachte, sie wüsste, wie weh das tun kann. Sie hat sich geirrt.
76
Sobald Bjarne aufgelegt hat, wählt er die nächste Nummer. Nach einer Sekunde ist die Verbindung hergestellt. Er gibt ohne Umschweife an, wo er ist und was passiert ist.
»Er hat Geiseln genommen«, wiederholt er, wie um den Ernst der Lage zu unterstreichen, bevor er das Gespräch beendet und wieder das Haus fixiert.
»Hat einer von Ihnen Erfahrung mit einer Situation wie dieser?«, fragt er in die Runde, ohne jemand Bestimmten anzusehen. »Außer dem, was Sie an der Polizeischule gelernt haben?«
»Nein«, sagt einer.
»Haben Sie irgendwas dagegen, wenn ich die Regie übernehme, bis das Sondereinsatzkommando vor Ort ist?«
»Nein, nein«, sagen zwei Beamte im Chor.
»Gut«, entgegnet Bjarne. »Wir müssen
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