Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
hat sie sich immer häufiger gefragt, ob sie ihn wirklich noch liebt.
Zum Glück hat es keine langen Diskussionen gegeben, wo sie wohnen sollten. Mattis ist das nicht so wichtig. Auch die Einrichtung, die Wahl des Sofas, die Farbe der Wände, das Tee- oder Kaffeeservice – nichts von alldem interessiert ihn wirklich. Im Gegensatz zu ihr. Sie haben also ein Haus in Jessheim gekauft, das Emilie nach und nach ausstatten will – sobald sie genauer weiß, was sie will.
Schade, dass Johanne nach dem Studium nicht auch wieder zurück nach Jessheim gezogen ist, denkt sie. Dann könnten sie sich viel öfter treffen als jetzt. Seit dem vergangenen Sommer haben sie sich nicht mehr gesehen. Umso mehr freut Emilie sich auf den nächsten Tag und die Essensverabredung mit ihr.
Aber das ist erst morgen. Heute muss sie erst einmal ihre übliche Tagesroutine bewältigen: Sebastian füttern, ihm die Zähne putzen, Haare kämmen, Butterbrote schmieren, ihn anziehen, Kleider zum Wechseln einpacken für den Fall … nein, nicht für den Fall, sondern weil er sich immer einsaut oder in die Hose macht.
Wie sie sich auf die Zeiten freut, wenn das endlich vorbei ist! Manchmal wünscht sie sich, es gäbe einen Schnellvorlauf, mit dem man die anstrengenden Phasen einfach vorspulen kann. Doch dann lächelt Sebastian sie an, lacht oder sagt etwas, sodass ihr ganz warm ums Herz wird, und in diesen Momenten dürfte ihretwegen dann wieder alles in Zeitlupe weitergehen.
Kurz nach halb neun parkt Emilie vor dem Kindergarten Nordby, einem lang gestreckten, flachen, rot gestrichenen Gebäude. Es hat sich nichts verändert, seit sie selbst als Kind hier in den Kindergarten ging. Auch heute sind die Kinder mehr oder weniger den ganzen Tag draußen, bei gutem wie bei schlechtem Wetter. Das Außengelände ist riesig. Es gibt jede Menge Spielgeräte und sogar einen Hügel, auf dem man im Winter Schlitten fahren kann.
Emilie steigt aus dem Wagen, ordnet ihre Kleidung und hebt Sebastian aus dem Kindersitz. Sie stellt ihn vorsichtig auf den Boden und greift nach seiner Hand. Langsam gehen sie auf den Eingang zu. Auf dem gepflasterten Weg an der Hauswand entlang steht eine lange Reihe Kinderwagen. Ein Vater, dem sie so gut wie jeden Morgen begegnet, lächelt ihr zu. Emilie lächelt zurück. Es ist ein schöner Morgen, den sie genießen sollte, solange er währt. Die Sonne leuchtet durch das Geäst der Bäume, die sich in den Himmel strecken. Morgennebel hüllt die Zweige und Blätter ein wie Zuckerwatte.
Ihr Blick bleibt an einem Mann hängen, der hinter einer Fichte am Zaun steht. Er hält sich eine Kamera vors Gesicht. Emilie geht langsamer, kneift die Augen zu, um besser sehen zu können. In dem diffusen Morgenlicht ist nicht viel zu erkennen, außer dass er eine grüne Militärjacke trägt. Die Kamera verdeckt noch einen Moment lang sein Gesicht, dann setzt er sie ab und scheint sie direkt anzusehen.
»Mama«, sagt eine dünne, ungeduldige Stimme neben ihr. Sebastian zieht an ihrer Hand.
»Ich komm ja schon, Schatz, ich will nur …«
Als sie wieder aufblickt, ist der Mann weg. Sie versucht herauszufinden, wo er abgeblieben ist, aber da sind nur im Wind schwankende Zweige und vom Boden aufwirbelnde Staubwolken. Merkwürdig, denkt sie. Hat er uns fotografiert?
Irgendwie kam ihr der Mann bekannt vor.
Sie schüttelt den Gedanken ab. Wahrscheinlich hat er nur ein Foto von dem schönen Licht gemacht. Kein Grund zur Sorge.
Emilie setzt sich wieder in Bewegung. Als sie auf die Uhr sieht, setzt das nervöse, kribbelige Gefühl wieder ein. Mattis könnte wirklich langsam anrufen.
16
Mit einem Schlag kehrt Ruhe ein vor der breiten Treppe im Polizeipräsidium, als Pia Nøkleby energisch vor die wartenden Journalisten tritt. Normalerweise kommt die Polizeichefin immer in Begleitung des Ermittlungsleiters Arild Gjerstad, aber dieses Mal ist sie allein.
Henning muss gestehen, dass er Pia Nøkleby seit seiner Rückkehr in die Redaktion im Frühjahr immer besser leiden kann. Er mag es, wie sie sich die dunklen Haare aus der Stirn streicht, obgleich sie bei der kleinsten Bewegung wieder zurückrutschen. Und ihre immer wachen Augen – braun mit grünen Sprenkeln. Das kleine Muttermal links neben der Nase, das ihn stets noch einmal mehr dazu veranlasst, ihr herzförmiges Gesicht anzusehen. Die weichen Lippen, nie zu rot, um nicht allzu sehr aufzufallen. Die Wangen, weich und mit gesundem Teint, mit einem Flaum heller, kaum sichtbarer Härchen, die er nur zu
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