Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
sich an nichts erinnern werden, selbst wenn sie etwas gesehen haben. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass einer von ihnen die Frau ermordet hat, ohne sich darüber im Klaren zu sein.
Er versucht, sich Erna Pedersen vorzustellen, wie sie ihrem Mörder begegnete. Sie muss ihn gekannt haben. Kein Fremder dringt in das Zimmer einer Dreiundachtzigjährigen ein, erwürgt sie und hämmert ihr danach Stricknadeln in die Augen.
Aber warum hat er das getan – nachdem die Frau bereits tot war?
Der Täter muss eine unbändige Aggression in sich gehabt haben. Es reichte ihm nicht, sie einfach nur zu töten. Der Mord dürfte wohl kaum geplant gewesen sein, denkt Henning, jedenfalls nicht im Detail. Sonst hätte er etwas anderes benutzt als die Stricknadeln des Opfers. Außer er wusste, dass diese jederzeit griffbereit und offen herumlagen.
Ziemlich sicher handelt es sich um einen Mord im Affekt. Und wer im Affekt tötet, braucht eine Weile, um wieder herunterzukommen, um wieder normal zu funktionieren. Wie ist es dem Mörder gelungen zu entkommen, ohne dass irgendwer ihn bemerkt hat?
Da niemand in dem Pflegeheim den Täter gesehen haben will, kann man davon ausgehen, dass die Leute irgendwie abgelenkt waren. Oder aber der Täter ist ein Dr. Jekyll/Mr. Hyde. Aber das wäre doch ein bisschen zu außergewöhnlich.
Henning denkt an die wichtigste Frage bei jeder Mordermittlung: Warum?
Ein paar klassische Motive, wie Eifersucht oder Mord aus Leidenschaft, scheiden höchstwahrscheinlich von vorn herein aus. Manche Menschen morden um der Spannung willen, aber das kommt eigentlich nur selten vor. Es deutet auch nichts darauf hin, dass der Mord begangen wurde, um von einem anderen Verbrechen abzulenken. Ein Ehrenmord ist auch unwahrscheinlich; diese Art kommt fast nur unter Bandenmitgliedern oder Menschen mit extremen religiösen Überzeugungen vor.
Geld? Das wäre eine Möglichkeit, klar. Bis jetzt gibt es noch keine Informationen über die finanzielle Situation des Opfers.
Viel mehr Alternativen gibt es jedoch nicht. Bleibt von den häufigsten Mordmotiven eigentlich nur eines: Rache.
Zieht man die Brutalität in Betracht, mit der der Täter vorgegangen ist, liegt das Rachemotiv fast schon auf der Hand. Aber was kann eine Dreiundachtzigjährige einem anderen Menschen angetan haben, um eine derartige Reaktion auszulösen? In einem Pflegeheim?
Vielleicht muss man in die Vergangenheit zurückgehen, überlegt Henning. Aber wie weit? Bis zu dem Zeitpunkt, als sie ins Heim kam? Oder noch weiter zurück? Auch die Untaten, die sich eine Siebzigjährige ausdenken kann, halten sich schließlich in Grenzen.
Das Opfer stammte aus Jessheim, hat er bei der Pressekonferenz erfahren. Aus Hennings alter Heimat. Vielleicht liegt die Erklärung dort? In diesem Fall wüsste er schon, wen er um Hilfe bitten kann.
Henning ist derart in Gedanken versunken, dass er die Schritte hinter sich nicht hört. Als Pia Nøkleby sich neben ihn setzt, zuckt er heftig zusammen, woraufhin sie lacht. »Ich wusste gar nicht, dass Sie so schreckhaft sind.«
»Ach«, sagt Henning verlegen. »Altes Kriegstrauma.«
Nøkleby lacht wieder.
Henning mag ihr Lachen. Und es fällt ihm schwer zu glauben, dass Pia Nøkleby sich so entspannt neben ihn setzen könnte, wenn sie Leichen im Keller hätte. Sie kennt Hennings Geschichte und weiß, was mit Jonas passiert ist. Wie könnte sie da den Tore-Pulli-Bericht manipuliert haben und gleichzeitig bester Dinge hier neben ihm sitzen?
»Ich hätte Erdbeereis mitbringen sollen«, sagt er.
Nøkleby lächelt wieder und schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Mir ist noch immer schlecht von dem letzten, das Sie mir spendiert haben.«
Henning lächelt ebenfalls und sieht, wie elastisch ihre Lippen sind, feucht und perfekt, als hätte sie gerade erst frisch Lippenstift aufgetragen.
»Gute Zusammenfassung«, sagt er anerkennend. »Professionell und klar wie immer.«
»Na ja«, sagt sie. »Viel Neues habt ihr nicht bekommen. Zumindest Sie nicht.«
Er senkt den Blick.
»Sie haben mir hin und wieder zu gute Quellen, Henning …«
»Sie hätten nicht zufällig Lust, eine davon zu werden?«
Jetzt lächeln beide.
»Ich dachte, ich wäre bereits eine Ihrer Quellen?«
»Schon, aber offizielle Quellen sind langweilig, Pia. Das wissen Sie doch.«
Sie schnaubt.
»Trotzdem sind Sie natürlich meine Lieblingsquelle. Und Sie wären …«
»Aha?«
»Ich hätte gerne eine Quelle, die mir Einblick in Indicia verschafft.«
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