Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
Training«, sagt Bjarne, als sie im Fahrstuhl stehen.
»Warum nicht?«
»Hast du irgendwo eine Sporttasche gesehen?«
Sandland denkt nach, ohne etwas zu sagen.
»Und warum hatte er normale Sachen an, wenn er noch nicht mal geduscht hat? Wo waren seine Trainingsklamotten?«
Der Fahrstuhl hält im Erdgeschoss.
»Und wie gehen wir jetzt weiter vor?«, fragt Sandland und dreht sich zu Bjarne um.
»Ich glaube, er verschweigt uns etwas. Ich werde zur Sicherheit in Sveins Gym anrufen. Wenn Nielsen nicht dort war, setzen wir ein Observationsteam auf ihn an.«
»Das kriegst du in so kurzer Zeit niemals durch, Bjarne. Nicht …«
»O doch«, sagt Bjarne und lächelt. »Es gibt ein paar Leute, die mir noch einen Gefallen schuldig sind.«
Sandland zuckt mit den Schultern.
Bjarne seufzt innerlich, weil es ihm wieder nicht gelungen ist, sie zu beeindrucken.
24
Die Antwort von Atle Abelsen kommt schneller, als Henning erwartet hat, aber sie kommt nicht per E-Mail, obwohl sie sonst nur auf diesem Wege kommunizieren.
»Hallihallo!«
»Hi, Atle. Du rufst wegen der E-Mail an?«
»Kein Hallo oder Wie geht’s dir ?«
»Hallo, Atle, wie geht’s dir?«
»Auf direktem Weg in die Hölle.«
»Welch Überraschung.«
»Das Leben ist halt so.«
»Und früher war alles besser, ja, ja. Also, du hast meine Mail gelesen? Sonst würdest du wohl kaum anrufen?« Henning will Atle gerade fragen, was er herausgefunden hat, als ihm etwas anderes in den Sinn kommt. »Weißt du eigentlich, wer Erna Pedersen ist? Du hattest sie nicht zufällig als Lehrerin?«
»Nein, aber ich habe meine Mutter angerufen. Sie arbeitet immer noch als Lehrerin in Kløfta und hat von der Frau gehört.«
Henning richtet sich etwas auf. »Und was hat sie gehört?«
»Die Alte soll ein richtiger Besen gewesen sein. Ganz die alte Schule. Hat mit dem Zeigestock auf das Pult geschlagen und die Kinder morgens zur Begrüßung aufstehen lassen.«
»Die gute alte Zeit.«
»Ja, und für genau die interessierst du dich ja wohl, oder? Ich habe ein paar Dinge herausgefunden, die vielleicht interessant sein könnten. Sie hat 1989 in der lokalen Polizeidienststelle Anzeige erstattet wegen Vandalismus.«
»Aha«, sagt Henning und zückt den Stift.
»Sie hat behauptet zu wissen, wer es getan hatte, aber die Namen stehen nicht in der Anzeige. Ich weiß nicht, ob die Kollegen der Sache wirklich nachgegangen sind, darüber liegt auf jeden Fall nichts vor.«
»Welche Art von Vandalismus war das?«
»Man hat ihr Haus mit Eiern beworfen und die Kellerfenster eingeschlagen. Die alte Schachtel ist immer mit dem Fahrrad zur Schule gefahren, und manchmal waren Löcher in ihren Reifen und so weiter und so fort.«
Hört sich nach typischen Jungsstreichen an, denkt Henning.
»Und dann ist ihr Mann im Garten von der Leiter gefallen, Herzinfarkt. Das war 1991. Das hat sie sicherlich nicht milder gestimmt.«
»Vermutlich nicht«, sagt Henning und denkt nach. »Sonst noch was?«
»Nein.«
»Okay. Wäre toll, wenn du mir ihre alte Adresse schicken könntest.«
»Kein Problem. Aber wie geht es dir eigentlich, Mann? Machst du noch Musik?«
Henning antwortet nicht sofort. »Nein, im Moment nicht, leider.«
»Verdammt, damit darfst du nicht aufhören! Du hast das echt im Blut.«
»Hm. Und du? Trinkst noch immer Calvados?«
»Ach, vergiss es, lass uns lieber mal ein Bierchen trinken gehen, wenn ich in der Stadt bin.«
»Okay. Danke für deine Hilfe, Atle.«
»You’re welcome, Dude.«
25
Einen Vormittag Freiheit.
Seit Emilie Blomvik Mutter ist, gibt es nichts, was sie mehr schätzt. Ein paar Stunden am Stück, in denen sie tun kann, wozu sie Lust hat. Sport treiben, ein Klatschmagazin lesen, das auf dem Kühlschrank Staub ansammelt, oder den Film angucken, den sie schon vor Ewigkeiten aufgenommen hat. Sie muss sich um niemanden kümmern und mit keinem irgendwohin, und es ist auch niemand da, der sie blöd ansieht, wenn sie schon vormittags eine Cola trinkt.
Qualitätszeit mit großem Q. Auch wenn es überraschend oft damit endet, dass sie nichts von alldem tut, was sie sich vorgenommen hat – wie an diesem Vormittag. Sie wollte eigentlich ein wenig im Internet surfen und sich in die Ferne träumen, Sommerferien planen oder zumindest das Buch anfangen, das sie im letzten Jahr zu Weihnachten bekommen hat. Aber wenn sie versucht zu rekonstruieren, was sie den ganzen Vormittag lang getan hat, nachdem sie Sebastian im Kindergarten abgeliefert hatte, kommt ihr nicht viel in
Weitere Kostenlose Bücher