Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
gestohlen wurde, hätte sie das Ganze einfach auf sich beruhen lassen können. Aber das allein war es nicht. In letzter Zeit hat sie immer wieder das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden, sowohl in der Stadt als auch auf dem Weg von der Uni nach Hause. Einmal ist ihr ein Mann in einer grünen Militärjacke aufgefallen, der vielleicht hundert Meter entfernt an einer Wand lehnte. Er hatte eine Kamera dabei und starrte sie an. Sie glaubt, ihn zuvor schon mal irgendwo gesehen zu haben, aber ihr will nicht einfallen, wo.
Heute hat sie dieses Gefühl glücklicherweise noch nicht gehabt. Gestern auch nicht, wenn sie es sich recht überlegt.
Johanne hat gehofft, nach einem langen, heißen Sommer mit frischem Elan ins neue Semester zu starten, aber schon seit dem allerersten Tag spürt sie eine unsägliche Schwere. Sie will nicht dort sein, hat schlicht und ergreifend keine Lust auf Marketing und neue Lehrbücher. Aber sie hat sich auch am nächsten Tag aus dem Bett gezwungen und am Tag darauf und so weiter. Wahrscheinlich nur eine Post-Sommer-Depression, redet sie sich ein, die sich bestimmt wieder legt, wenn sie erst ihren Rhythmus gefunden hat.
Aber sie legt sich nicht.
Alles fällt ihr schwer und strengt sie an.
Dass diese verflixte Magisterarbeit ihr wie ein Troll mit scharfen Krallen im Nacken sitzt, macht es auch nicht besser. Und der blöde Betreuer, der nie Zeit und auch kein Interesse hat, sich anzuhören, was sie denkt oder meint, ist auch nicht gerade motivierend. Er ist doch der Experte, nicht sie. Sie ist nur eine Studentin, eine von vielen, die im Lauf der Jahre bei ihm vorgesprochen haben. Frische Perspektiven, ach was.
Wie sie die Kraft aufbringen soll, das letzte Semester zu überstehen, weiß sie nicht. Sie kennt dieses Gefühl von den letzten Jahren auf der weiterführenden Schule, als sie alles hasste, was mit dem Unterricht zu tun hatte. Auch damals wollte sie nur noch so schnell wie möglich fertig werden.
Erst mit Anfang dreißig hat sie beschlossen, etwas aus ihrem akademischen Fundament zu machen. Anfangs hat es sogar noch Spaß gemacht, wieder die Schulbank zu drücken und Partys zu feiern mit allem, was dazugehört. Wahrscheinlich ist das inzwischen das Einzige, was sie noch aufrecht hält.
Ihr Daumen streicht über das Handydisplay. Sie ist auf Facebook, und ihr wird ganz warm, als sie Emilies neueste Statusaktualisierung sieht. Johanne drückt »Gefällt mir« und schreibt einen Kommentar dazu. Zwischendurch hebt sie den Blick, um zu sehen, wo sie entlanggeht.
Ihre Wohnung ist zum Glück nicht weit von der Uni entfernt, und es wird ihr guttun, nach Hause zu kommen und sicherzustellen, dass alles beim Alten ist.
Baltazar liegt in seinem Korb, wie sie ihn verlassen hat. Schwarz-weiß und zufrieden.
Johanne Klingenberg legt den Schlüsselbund weg, nimmt wieder das Handy heraus und ruft Facebook auf. Checkt in Casa Johanne ein.
Zu Hause.
Sicher zu Hause.
28
Henning sieht auf die Uhr. Der Arbeitstag ist vergangen, ohne dass Erna Pedersens Sohn sich zurückgemeldet hätte. Henning hat ihm noch eine E-Mail geschickt, aber auch darauf keine Antwort erhalten. Und auch Bjarne Brogeland hat offenbar keine Zeit, auf seine Anrufe zu reagieren. Die Dinge gehen langsam voran.
Henning hat seinen Bericht abgeliefert. Er hat den Fokus darauf gelegt, dass die alte Frau erwürgt wurde, und das Ganze mit dem Foto illustriert, das die Polizei an die Presse herausgegeben hat. Ein gut lesbarer Artikel, der sich natürlich nicht mit den Beiträgen über Trine messen kann.
VG Nett hat einen alten Bekannten aus Trines Jurastudium aufgespürt, der nur zu gern davon berichtete, dass »Trine Juul, wie sie damals hieß, eine Partymaus« gewesen sei. Es würde ihn nicht wundern, »wenn an den Vorwürfen tatsächlich etwas dran wäre«. Keine Zeitung hat ein tagesaktuelles Bild von ihr. Das neueste, das sie zu bieten haben, ist von dem Morgen, an dem sie gesenkten Hauptes ins Regierungsgebäude gestürmt ist. Die immer wiederkehrende Schlagzeile lautet: »Juul-Osmundsen abgetaucht!«
Henning hat eigentlich damit gerechnet, dass im Lauf des Tages der Name des jungen Parteikollegen bekannt würde, aber trotz wilder Spekulationen im Netz kann sich noch kein Kandidat durchsetzen. Soweit Henning es beurteilen kann, sind inzwischen so gut wie alle AUF -ler, die an dem Parteitag im letzten Jahr teilgenommen haben, interviewt worden. Und jeder einzelne von ihnen leugnet, in Trines Hotelzimmer gewesen zu sein.
Das Bild,
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