Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
Matratze. Wie sie dahin gekommen war, nachdem sie die Hütte abgeschlossen hatten, konnte sich keiner von ihnen erklären, nicht einmal Henning.
Trine stellt fest, dass die Mäuse wie gewohnt in dem Häuschen Zuflucht gesucht haben. Und nicht wenige. Dieses Mal freut sie sich aber schon aufs Putzen, auf die körperliche Arbeit, bei der sie an andere Dinge denken kann als an das Damoklesschwert, das über ihr hängt.
Sie zieht die Gardinen auf, öffnet die Tür, lässt die Seeluft herein. Bald wird der klamme Geruch von Staub und Muff verflogen sein. Es war eine gute Entscheidung hierherzukommen. Das ewige Rauschen des Meeres macht das Atmen leichter.
Trine dreht den Wasserhahn auf. Es spotzt und hustet ein bisschen in den Rohren, bevor ein gleichmäßiger kalter Wasserstrahl aus dem Hahn schießt. Sie setzt einen großen Topf mit Wasser auf und sucht das Putzzeug zusammen.
Trine ist schon eine Weile bei der Arbeit, als ihr Handy piepst. Eine SMS von Katarina, die wissen will, ob sie gut angekommen und alles in Ordnung ist. Ja, antwortet Trine auf beide Fragen, überrascht, dass die SMS direkt rausgeht, weil die Netzabdeckung hier draußen normalerweise wirklich schlecht, zeitweise gar nicht vorhanden ist. Doch diesmal dauert es keine Minute, bis die Antwort kommt:
Hast Du da draußen einen Fernseher? Heute Abend Talkshows auf NRK und TV 2: Tut die Gesellschaft zu wenig, um sexuelle Belästigung zu unterbinden? Es sind männliche und weibliche Inzestopfer eingeladen …
Na klar, denkt Trine. Die Talkshows setzen jetzt schon darauf, dass das vermeintliche Vergehen tatsächlich stattgefunden hat. Aber was bitte hat Inzest mit der Sache zu tun?
In diesem Moment spürt sie es. Der weiße Schrank in der Ecke neben dem Fernseher zieht sie förmlich an. Sie tritt näher, öffnet ihn, und muffiger Geruch schlägt ihr entgegen. Massenweise Gläser, fein säuberlich aufgereiht. Und weiter unten – Flaschen. Likör. Cognac.
Ihre Eltern haben in der Hütte immer Cognac getrunken. Das gehört dazu, meinten sie. Kaffee, Cognac und Schokolade. Die heilige Dreieinigkeit.
Trine nimmt eine Flasche in die Hand, blickt auf das Etikett. St. Hallvards, halb leer. Sie setzt sich an den Couchtisch, sieht die Flasche an und fragt sich, wann es angefangen hat. Wann beginnt man, seinen Eltern zu ähneln, auch wenn man sich immer geschworen hat, nie so zu werden?
Sie nimmt ein Glas aus dem Schrank, bläst den Staub heraus und schenkt sich einen Doppelten ein. Dann angelt sie die Zigarettenschachtel aus ihrer Tasche und zündet sich eine an. Sippenhaft, denkt sie und erhebt das Glas auf ein weiteres Familienmitglied, das über den Rand des Abgrunds rutscht.
30
Über ihm schiebt der Wind die noch immer dicken, dunkelgrauen Wolken herum. Schwalben fliegen kreischend umher.
Schon seltsam, dass sie nie zusammenstoßen, denkt Henning und versucht, ihrem Flug mit den Augen zu folgen. Ein ewiges Hin und Her, Auf und Ab. Abrupte, jähe Kursänderungen. Unerschöpfliche Energie und freie Entfaltung. Die Bewegungen wirken wie zufällig, als würde ihr Flug von unkontrollierten Impulsen gesteuert. Welch ein Kontrast zu den Zugvögeln, die bald im Formationsflug ihre Reise gen Süden antreten.
Es muss toll sein, so zu leben, denkt Henning und nimmt einen Schluck von seiner täglichen Ration schwarzen Zuckerwassers. Fortwährend auf spontane Eingebungen hören – oder einfach mit seinem Leben einem klar abgesteckten Plan folgen. Beides erscheint ihm in diesem Moment gleichermaßen attraktiv.
Henning nimmt noch einen Schluck, während er nachdenkt. Nachdenken kann er am besten im Dælenenga. Es sind noch nicht viele Leute da, aber der Nachmittag ist auch gerade erst angebrochen. Und sie werden auftauchen, egal wie schlecht der Wetterbericht ist. Das weiß er ganz genau. Die Kinder, die Jugendlichen, die Leute, die hier einfach nur rumhängen. Und die Eltern, die ihren Sprösslingen beim Sport zusehen.
Er denkt an Erna Pedersen. Eine strenge, unbeliebte Lehrerin. Was hat sie sonst noch gemacht? Hatte sie Interessen? Irgendein Amt? Gestrickt hat sie allem Anschein nach gerne. Vielleicht war sie ja mit Gleichgesinnten befreundet, möglicherweise in einem Handarbeitszirkel oder in irgendeinem Verein. Irgendjemand muss sie doch gekannt haben.
Laut Bjarne Brogeland hatte sie im Grünerhjemmet seit Ewigkeiten keinen Besuch mehr. Vieles deutet darauf hin, dass sie ein isoliertes Leben führte, während sie auf ihren Tod wartete.
Henning hat gerade
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