Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
die Coladose wieder zum Mund geführt, als sein Telefon klingelt. Überrascht sieht er, dass der Anruf von Tom Sverre Pedersen kommt, dem Sohn des Opfers. Er stellt die Coladose ab und zieht seinen kleinen Notizblock aus der Jackentasche. Dann meldet er sich mit vollem Namen.
»Tom Sverre Pedersen hier. Sie haben versucht, mich zu erreichen?«
»Ja, das stimmt«, sagt Henning und zieht mit den Zähnen den Plastikdeckel vom Kugelschreiber. »Zuallererst möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen.«
»Danke.«
Henning klemmt das Telefon zwischen Schulter und Ohr und versucht, eine Position zu finden, in der er auch schreiben kann. Gar nicht so leicht auf den kalten, harten Brettern.
»Es tut mir leid, Sie in einer Zeit belästigen zu müssen, die für Sie sicher nicht einfach ist.«
Pedersen reagiert nicht.
»Ich arbeite bei 123nyheter , und ich …«
»Ich weiß, wer Sie sind, Juul. Ich kenne unsere Medienlandschaft.«
»Ah, gut. Dann wissen Sie sicher auch, warum ich Sie erreichen wollte. Ich würde gerne einen Hintergrundartikel über den Mord an Ihrer Mutter schreiben. Wer sie war, all das. Ich möchte, dass die Leser besser mit ihr bekannt werden.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob sie das auch wollen.«
Die unerwartete Antwort zieht Henning für einen Moment den Boden unter den Füßen weg.
»Wie meinen Sie das?«
»Hören Sie, Juul. Ich weiß nicht, wie viel Sie bereits über meine Mutter herausgefunden haben, aber wenn Sie auf der Suche nach einem Glanzbild sind, mit dem Sie Ihre Zeitungsseite schmücken können, vergeuden Sie nur Ihre Zeit. Mama war keine Mutter Teresa.«
Henning bohrt die Stiftspitze so fest in das Papier, wie es nur geht, ohne dass es reißt. Es kommt aber keine Tinte. Er schüttelt den Stift. Ohne Ergebnis.
»Das sind harte Worte von einem Sohn.«
»Hart, ja, aber wahr. Meine Mutter war keine nette Frau.«
Henning gibt auf, legt den Stift weg und nimmt sich vor, sich den Gesprächsverlauf bestmöglich zu merken. »Sie soll sehr streng gewesen sein. Zumindest als Lehrerin.«
»Das ist noch milde ausgedrückt. Sie wusste, was sie wollte, und wer ihr in die Quere kam, wurde mit besonderer Härte behandelt. Sie können sich ja vielleicht vorstellen, was das für mich bedeutete, wenn meine Freunde bei Mama in die Klasse gingen.«
»Sie hatten nicht oft Freunde bei sich zu Hause, oder?«
»Nicht wirklich, nein. Manche Leute haben Schwierigkeiten, den Apfel vom Stamm zu unterscheiden, um es mal so zu sagen.«
»Verstehe.«
»Verstehen Sie das wirklich, Juul? Ich sage Ihnen das alles, weil ich einige Ihrer Artikel gelesen habe. Sie scheinen geradlinig und wahrheitsliebend zu sein. Aus meiner Erfahrung mit den Medien weiß ich, dass Sie damit ziemlich allein dastehen. Und die Menschen in Jessheim werden die Köpfe schütteln und über Sie lachen, wenn Sie Mamas Leben in schönen Farben malen.«
»Dann hatte Ihre Mutter viele Feinde?«
Pedersen schnaubte. »Sie war eine richtige Hexe. Dass Papa so viele Jahre mit ihr verheiratet war, ist ein Wunder. Verstehen Sie mich nicht falsch – sie war meine Mutter. Ich hatte sie gern, auf gewisse Weise. Ich habe dafür gesorgt, dass sie einen Platz im Grünerhjemmet bekommen hat, da ich weder Zeit noch Lust hatte, mich selbst um sie zu kümmern. Das müssen Sie ja vielleicht nicht gerade schreiben. Ich wollte trotzdem, dass sie es in ihren letzten Tagen gut hatte. Und mit der Ausnahme ihres schrecklichen Endes hat sie es, glaube ich, ganz gut getroffen.«
Henning nickt. Ein verlockender Gedanke. Es wäre wunderbar, wenn er die Pflege seiner Mutter jemandem anvertrauen könnte, der einen besseren Job machte als er selbst.
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr Haus, als sie noch in Jessheim wohnte, Vandalismus ausgesetzt war?«
»Ja, eine Zeit lang war das fast so etwas wie ein Sport.«
»Haben Sie je herausgefunden, wer dahintersteckte?«
»Nein, aber ich weiß, dass sie einen Verdacht hatte.«
»Kennen Sie jemanden, der sie mehr als die anderen verabscheut hätte?«
Pedersen ist einen Moment lang still. »Spontan fällt mir da niemand ein. Es ist aber ja auch schon eine ganze Weile her.«
Henning sieht Adil mit einer Tasche über der Schulter auf den Platz kommen. Aber er muss sich auf das Telefonat konzentrieren.
»Ich gehe davon aus, dass die Polizei Sie verhört hat …«
»Ja.«
»Man hat Sie sicher auch gefragt, ob Sie einen Verdacht haben, wer Ihrer Mutter das angetan haben könnte.«
Pedersen wartet wieder mit seiner
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