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Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Titel: Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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das die Medien in diesen Tagen von ihr zeichnen, ist meilenweit entfernt von dem des kleinen Mädchens, mit dem Henning in Kløfta aufgewachsen ist. Er erinnert sich an Süßigkeitenteller zu Weihnachten. An Gute-Nacht-Umarmungen und an Fußball- und Handballspiele unten im Kellerflur, wo ein noppiger grauer Teppich lag, der nach Urin roch, weil die Katzen aus der Nachbarschaft eine Vorliebe für ihren Keller hatten.
    Denkt Trine auch noch manchmal an diese Zeit?
    Als Teenager haben sie sich irgendwann voneinander entfernt. Er schloss die Schule ab und ging zum Militär, seither hatte er kaum noch Kontakt zu ihr. Die wenigen Male, die er zu Hause anrief, ging immer seine Mutter ans Telefon. Trine selbst rief nie an, begrüßte ihn auch nicht mehr mit einer Umarmung, wenn er nach Hause kam, ging in der Regel gleich nach dem Essen wieder und kam erst spät wieder zurück.
    Trotz der Funkstille zwischen ihnen berührt ihn, was gerade mit ihr passiert. Er mag sie nicht bluten sehen. Aber obgleich es verlockend ist, der Sache auf den Grund zu gehen, wird er sich hüten, sich einzumischen. Außerdem würde er mit Sicherheit auf verschlossene Türen stoßen. Er hat keine Kontakte in ihre Kreise. Und was kann er schon ausrichten, wenn sie noch nicht einmal wissen, wer dieser ominöse arme Jungpolitiker ist?
    Nein, denkt sich Henning, das ist nicht mein Fall.
    29
    Das herbstliche Wetter macht nicht gerade Lust, sich nach draußen zu begeben, und Bjarne Brogeland weiß nicht, wann er hier wegkommen wird. Darum schickt er eine SMS an Anita und entschuldigt sich im Vorhinein dafür, dass auch dieses Abendessen ohne ihn stattfinden muss. Es kommt keine Antwort.
    Kurz vor der Zusammenkunft des Ermittlungsteams geht ein Anruf von der Einheit bei ihm ein, die in den letzten zwei Stunden Daniel Nielsens Mietshaus observiert hat.
    »Ja?«, sagt Bjarne.
    »Sie wollten doch wissen, wenn sich etwas tut«, sagt die Stimme am anderen Ende.
    »Ja?«
    »Er ist gerade herausgekommen und von einem roten BMW abgeholt worden, der ein riesiges Loch im Auspuff hat.«
    »Ja …?«
    »Wir sind ihnen über Majorstua und Smestadkrysset zum Holmenkollen gefolgt, haben sie aber gerade an einer roten Ampel aus den Augen verloren. Der röhrende Auspuff ist leider auch nicht mehr zu hören.«
    »Zum Holmenkollen?«
    »Ja.«
    Was wollte er dort?
    »Wir haben das Autokennzeichen überprüft. Der Wagen ist auf eine gewisse Pernille Thorbjørnsen zugelassen. Kennen Sie sie?«
    Bjarne denkt nach. »Ja«, antwortet er leise.
    »Aber sie saß nicht am Steuer. Der Fahrer war männlich mit blonden, etwa schulterlangen Haaren.«
    Ein Mann mit schulterlangem blondem Haar, denkt Bjarne und ruft sich die Leute ins Gedächtnis, mit denen er im Laufe der letzten vierundzwanzig Stunden gesprochen hat. Kann der Fahrer Ole Christian Sund gewesen sein, der Hilfspfleger, der die tote Erna Pedersen gefunden hat?
    Die Bodyguards haben sich angeboten, Trines Taschen mit den Kleidern und dem Proviant zu tragen, aber sie hat abgelehnt. Den Schmerz, der sich aus den Armen in die Schultern zieht, nimmt sie gern in Kauf, und sei es nur, um zu spüren, dass sie noch lebt. Daran hat sie in den letzten Stunden nämlich gezweifelt. Sie hat nur noch funktioniert wie im luftleeren Raum, ohne Boden unter den Füßen.
    Das Meer ist nichts für Pål Fredrik, er ist eher ein Bergmensch. Da ist nichts los, sagt er immer. Genau. Am Meer ist nichts los. Und eben weil dort nichts los ist, will sie nirgendwo anders sein. Nur Wind und Wasser, keine Vorwürfe.
    Der Schlüssel liegt noch dort, wo sie ihn das letzte Mal deponiert hat. Das muss vor Jahren gewesen sein. Unter der Bank neben dem Eingang in das gelbe Zimmer. Der Geruch, der ihr entgegenschlägt, als sie die Hütte betritt, weckt Erinnerungen. Es ist alles noch genauso, wie sie es aus ihrer Kindheit in Erinnerung hat. Der weiße, baufällig aussehende Kamin in der Ecke, daneben der morsche Holzhocker. Der kleine, verstaubte tragbare Fernseher, der weiße Schrank mit den Gläsern und Flaschen. Die Schlafcouch an der Wand. In der Mitte der Tisch, den man auf die doppelte Größe ausziehen kann. Alte Stühle mit blauen Kissen.
    Sie erinnert sich an einen Sommer, als sie etwa Mitte Mai in die Hütte gekommen sind. Überall lagen Mäuseköttel, alles war angefressen: die Kissen, die Bettwäsche, sogar die Kerzen. Ein anderes Mal fanden sie eine tote Bachstelze, ganz steif, aber so schön, als wäre sie noch am Leben. Sie lag unter einer

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