Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
zwei Bilder hingen – was sagen Sie dann?«
Es ist ein paar Sekunden still. »Ja, das stimmt. Zumindest in letzter Zeit.«
Bjarne steckt einen Finger ins Ohr, um die Hintergrundgeräusche auszublenden. »Wie meinen Sie das?«
»Als ich Frau Pedersen übernommen habe, hing nur ein Bild dort, ein Foto. Aber vor nicht allzu langer Zeit ist ein zweites dazugekommen. Warum wollen Sie das wissen?«
»Denken Sie jetzt scharf nach, Nielsen. Das eine Foto war eine Aufnahme von Erna Pedersens Sohn mit Familie. Erinnern Sie sich, was das andere war?«
»Ein Schulfoto«, antwortete Nielsen, ohne zu zögern.
»Ein Schulfoto?«
»Ja, so ein typisches Klassenfoto.«
»Aha?«
»Es ist wohl schon einige Zeit her, dass es aufgenommen wurde.«
Bjarne nickt. Erna Pedersen war Lehrerin und hat etwas von Bruchstrichen gesagt, bevor sie ermordet wurde. Und an der Wand in ihrem Zimmer hing seit Kurzem das Foto einer Schulklasse.
Nach ihrer Ermordung ist es nicht mehr da. Die Chance, dass der Täter es mitgenommen hat, ist ziemlich groß.
Aber warum um alles in der Welt hat er das getan?
DIENSTAG
35
Die Pressemitteilung kam spät am Abend per Fax und führte in den Zeitungsredaktionen zu hektischer Aktivität. Die ersten Papierausgaben, die gedruckt worden waren, konnten die Kontaktaufnahme des jungen Parteipolitikers zu den Redaktionen des Landes nicht mehr vermelden. Neue Auflagen gingen in Druck, mit neuen Schlagzeilen, kleinere Zeitungen setzten die Seitenzahl hoch, um der Pressemitteilung und den folgenden Kommentaren den gebührenden Platz einzuräumen, wie es sich für das Thema Nummer eins der Woche gehörte.
Der junge Mann erklärte, er weigere sich kategorisch, seine Identität offenzulegen, da er verhindern wolle, dass der sexuelle Übergriff einer der profiliertesten Politikerinnen des Landes für alle Zeiten hervorgekramt würde, sobald man über ihn berichtete, insbesondere angesichts seiner eigenen politischen Ambitionen. Trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, in kurzen Zügen zusammenzufassen, was vorgefallen war.
Es begann mit einem Blick. Anfangs hatte der Mann sich noch geschmeichelt gefühlt, dass die Ministerin – eine Frau, die er immer sehr geschätzt habe – sich auch auf diese Weise für ihn interessierte. Es folgten weitere Blicke, den ganzen Abend lang. Und als er Rotwein auf sein weißes Hemd verschüttete und in sein Hotelzimmer ging, um ein frisches anzuziehen, entdeckte er plötzlich Trine hinter sich, die ihn aufforderte, mit in ihr Zimmer zu kommen, schrieb er. Den Rest könne man sich ja denken.
Hinterher, als sie ihn fast aus dem Zimmer komplimentiert hatte, fühlte er sich ausgenutzt. Und als er ein paar Wochen später Kontakt zur Justizministerin aufnahm, um eine Entschuldigung einzufordern, wurde er mit dem Kommentar abgewiesen: »Ich denke, dass viele Männer gerne mit dir tauschen würden.«
VG bringt ganze zwölf Seiten über Trine, Dagbladet neun. Aftenposten hat dem Übergriff mehr oder weniger die gesamte Titelseite und vier Innenseiten gewidmet, und neben einer ganzen Reihe von Bildern der Ministerin gibt es jede Menge Kommentare und Reaktionen. Sie haben attraktive Porträtbilder von ihr ausgegraben. In den Leitartikeln wird knallhart gefordert, dass Trine Juul-Osmundsen entweder zusehen solle, dass sie schnell ihren Stuhl räumt, oder endlich eine wirklich gute Erklärung abgibt. Keiner kann nachvollziehen, wieso sie nicht längst von ihren Ämtern zurückgetreten ist, und alle zerreißen sich das Maul darüber, dass sie sich am Tag zuvor aus dem Justizministerium gestohlen hat, um der Presse zu entkommen.
Mehrere Reporter waren im Hotel Caledonien, um herauszufinden, welches Zimmer am fraglichen Abend auf Trines Namen gebucht war, und haben – wie zu erwarten – ein Foto der verschlossenen Tür gemacht. »Hinter dieser Tür ist es passiert.« Sie haben sämtliche AUF -Repräsentanten belämmert, die an dem Abend dort waren, und sie nach dem Opfer ausgefragt. Bis jetzt noch ohne Ergebnis. Natürlich wird trotzdem wild spekuliert. Es wurden auch noch andere Parteifreunde befragt, die dort gewesen sind, aber niemand kann sich erinnern, Trine beim Abendessen gesehen zu haben, was mehrere Medien zu der Bemerkung veranlasst, dass sie »wohl anderweitig beschäftigt« gewesen sei.
Als Henning die Redaktion betritt, weiß er, dass Trines Chancen, mit heiler Haut aus dieser Sache herauszukommen, gleich null sind. Im Kielwasser der Affäre werden weitere negative Informationen
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