Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
Bordsteinkante gerollt ist.« Henning macht eine Pause.
»Und weiter?«, fragt Ulrik.
»Ich bin zu ihm gegangen und hab ihn aufgehoben. Der arme Kerl hatte das Bein gebrochen, also hab ich es geschient. Wisst ihr, was schienen bedeutet?«
Beide schütteln den Kopf.
»Man sorgt dafür, dass der Knochen an der Stelle, wo er gebrochen ist, versteift wird. Damit er eine Chance hat, wieder zusammenzuwachsen.« Henning sieht die beiden Jungs an. »Ich konnte ihn doch nicht einfach da liegen lassen. Dann hätten die Katzen ihn geholt.«
Die Jungs nicken. Henning streckt sich ganz auf dem Rücken aus, obwohl die Unterlage feucht ist, und starrt in den grauen, dicht verhangenen Himmel, der immer schwärzer wird.
»Ich habe vor ein paar Tagen eine Tote gesehen«, sagt Ulrik plötzlich.
Henning gibt sich Mühe, den Kopf nicht zu rasch zu heben. »Echt?«
Ulrik nickt. »Eine alte Frau im Pflegeheim.«
Henning setzt sich auf und beugt sich vor. Sein Herz pocht, und er muss sich beherrschen, nicht weiterzufragen.
»Sie hat in ihrem Rollstuhl gesessen. Ziemlich gruselig sah das aus.«
Henning wartet, bis der Junge ihn ansieht, dann nickt er, ohne etwas zu sagen.
»Am Tag vorher habe ich sie auch besucht. Da hat sie mir gesagt, dass sie Angst hat.«
Henning würde den Jungen am liebsten mit Fragen bombardieren, hält sich aber zurück.
»Und dann hat sie den Arm gehoben«, sagt Ulrik und streckt einen Zeigefinger in die Luft, »und auf die Wand gezeigt.«
»Auf ein Bild oder so?«, hakt Henning nach.
Der Junge nickt. »Und dabei hat sie immer wieder gesagt: Bruchstriche, Bruchstriche, Bruchstriche .« Ulrik krächzt es mit verstellter Stimme.
» Bruchstriche ?«
Der Junge nickt.
»Komisch«, sagt Henning.
»Das fand ich auch.«
»War das das Einzige, was sie gesagt hat?«
»Ja. Und als ich sie am nächsten Tag besuchen wollte, war sie tot.«
Jetzt kann Henning sich nicht mehr zurückhalten. »War noch jemand anders da?«
Ulrik schüttelt den Kopf.
»Du hast niemanden in ihrem Zimmer gesehen?«
Gleiche Reaktion.
Hm, denkt Henning bei sich. Interessant.
34
Der Steintroll in der Wohnung von Daniel Nielsen ist frei von Kerben oder Kratzern, genau wie Bjarne es erwartet hat. Nielsen hat ihnen erzählt, er habe den Troll vor ein paar Wochen von Sunds Sohn bekommen, der die Dinger am Fließband produziert. Und dann hat er bestätigt, dass auch Erna Pedersen einen bekommen hat als Dank für die Karamellbonbons, die der Junge immer von ihr bekam.
Sie haben in Nielsens Wohnung auch sonst nichts von Interesse gefunden – außer den untrüglichen Zeichen eines traurigen Singledaseins.
Die Überprüfung seiner Finanzen wird ergeben, dass er ein monatliches Gehalt von der Stadt Oslo bekommt und seine Ausgaben vollkommen normal sind. Sie wollen auch die Telefonverbindungen überprüfen, aber Bjarne ahnt, dass sie auch dort nichts finden werden, was sie weiterbringen würde.
Er ist auf dem Weg zum Wagen, als sein Telefon klingelt. Henning Juul, zum zigsten Mal an diesem Tag. Bjarne sieht sich um. Ella Sandland ist noch in Nielsens Wohnung. Also antwortet er.
»Wie viele Bilder hingen an der Wand in Erna Pedersens Zimmer?«
»Wie bitte?«
Henning wiederholt die Frage.
»Wieso willst du das wissen?«
»Weil ich möglicherweise etwas für dich habe. Aber beantworte mir zuerst meine Frage.«
Bjarne seufzt. »Keines. Das heißt, es gab da ein Bild, aber das war von der Wand gerissen.«
»War es ein Familienfoto?«
Bjarne bleibt stehen. »Woher zum Teufel weißt du das?«
»Sieh dir die Wand noch mal genauer an. Such nach Spuren anderer Bilder, die dort vielleicht gehangen haben.«
»Wie kommst du darauf?«
»Vielleicht fehlt eines?«
Bjarne legt auf und wählt Daniel Nielsens Nummer. Diesmal nimmt der Hilfspfleger das Gespräch sofort entgegen, obwohl er bereits im Dienst ist. Bjarne teilt ihm mit, dass sie in seiner Wohnung nichts gefunden haben.
»Hab ich doch gesagt.«
»Wir mussten das natürlich überprüfen. Ich würde Sie aber gerne noch etwas anderes fragen. Sie interessieren sich doch für Fotografie, stimmt’s? Zumindest haben Sie eine Menge Fotos an der Wand hängen.«
»Ja, kann man sagen«, antwortet Nielsen zögernd.
»Und in den letzten Monaten war niemand so häufig in Erna Pedersens Zimmer wie Sie. Das stimmt doch auch, oder?«
»Ja, das ist … vermutlich richtig.«
Bjarne wartet einen Augenblick, ehe er fortfährt: »Wenn ich Ihnen sage, dass an Erna Pedersens Wand neben der Kommode
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