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Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Titel: Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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untergekommen, dass einer ihrer Staatssekretäre hundertprozentig hinter seiner Chefin steht. Bisher hat noch niemand wirklich herausgebracht, was sich an diesem Tag tatsächlich in Zimmer Nummer 316 abgespielt hat.«
    »Aber sie will sich ja nicht äußern«, protestiert Hjeltland. »Was sollen wir deiner Meinung nach tun, Henning? Nicht darüber schreiben, was bisher ans Tageslicht gekommen ist?«
    »Nein, aber die Dimensionen, die in diesem Fall angelegt werden, sind einfach unverhältnismäßig! Es mag ja sein, dass Trine tatsächlich getan hat, was man ihr vorwirft, aber gerade deshalb wäre es sehr erfrischend, wenn irgendeine Zeitung oder ein Fernsehsender mal einen Schritt nach hinten treten würde, um die Sache aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Oder wenigstens ein Interesse daran zu zeigen.«
    »Hast du das Fax gelesen, mit dem er gestern die Presse informiert hat?«
    Henning fuchtelt mit den zwei Faxseiten, die er in der Hand hält, durch die Luft.
    »Deine Schwester ist ein Machtmensch, Henning. Sie hat bewusst ihre Position ausgenutzt und einen jungen Mann zum Sex gezwungen.«
    »Möglich, aber das Einzige, was die Medien im Moment interessiert, ist, dass Trine abdankt und sich entschuldigt. Es spielt keine Rolle, was sie sagt, oder überhaupt, was sie getan hat, weil ihr ohnehin niemand glauben wird. Jetzt nicht mehr. Nicht, nachdem ihr all diesen Dreck über sie ausgeschüttet habt.«
    »Ich kann dich ja verstehen, Henning, immerhin ist sie deine Schwester, die …«
    »Das hat nichts damit zu tun, dass Trine meine Schwester ist«, sagt Henning mit ungewohnter Wut in der Stimme. »Es geht darum, dass sich das Muster wiederholt, immer und immer wieder. Sobald eine öffentliche Person angeblich etwas Kritikwürdiges tut, stürzen wir uns auf sie wie die Geier. Und ich sehe diese Mischung aus Entrüstung und Schadenfreude auch in den Gesichtern hier bei uns, sobald eine neue Sache auftaucht. Aber das gibt es nicht nur hier, Kåre, ich kenne das auch aus den anderen Redaktionen, in denen ich gearbeitet habe. Und ich finde es zum Kotzen.«
    Henning merkt, wie sich das Blut in seinem Kopf sammelt. Die ersten Kollegen sind auf die beiden aufmerksam geworden, halten sich aber auf Distanz. Henning ist es egal, er nimmt erneut Anlauf, gibt sich aber Mühe, nicht allzu scharf und bissig zu klingen. »Trine ist vor nicht allzu langer Zeit krankgeschrieben gewesen. Denkt eigentlich keiner daran, dass das alles hier ein bisschen viel für sie werden könnte?«
    Obgleich er gedämpft spricht, sitzen seine Worte, wie er an Hjeltlands verspanntem Gesicht erkennt.
    »Und wie sollen wir uns deiner Meinung nach verhalten, Henning?«
    »Geht den Informationen auf den Grund«, sagt er. »Und tragt sie nicht ungefiltert auf den Markt.«
    Hjeltland schnaubt verächtlich. »Du weißt genau, dass uns dafür die Ressourcen fehlen, Henning. Und die Leser …«
    »Und da hoffst du lieber, dass wahr ist, was behauptet wird.«
    »Nein, aber wir müssen schreiben, was wir schreiben können, und zwar auf Basis der Informationen, die wir haben.«
    Henning spürt hinter seinen Augen die Lunte brennen, weiß aber auch, dass es keinen Sinn hat, die Diskussion fortzuführen. Darum schüttelt er den Kopf und sagt: »Ich gehe. Das ist mir gerade zu viel.«
    »Und wo willst du hin?«, ruft Hjeltland ihm nach.
    »Nach Jessheim.«
    36
    Trine Juul-Osmundsen wacht von einem Geräusch auf. Sie braucht einen Moment, um sich zu orientieren.
    Vermutlich läuft einer ihrer Bodyguards um die Hütte.
    Sie steht von der Schlafcouch im Wohnzimmer auf und spürt das Pochen in ihrem Kopf. Aufzustehen allein reicht schon, dass ihr schwindelig wird. Stöhnend fasst sie sich an die Stirn. Sie sieht die leere Flasche Likör vor sich. Bei dem Anblick dreht sich ihr der Magen um. Sie schleppt sich zum Fenster und zieht die Gardinen zurück. Ein Hase mit grauem Pelz schießt davon. Er hat auf dem Pinkelberg gesessen, wie sie den kleinen Hügel auf der dem Meer zugewandten Seite der Hütte immer genannt haben. Henning ging abends dort immer pinkeln, bevor sie in dem winzigen Schlafzimmer in ihre Doppelstockbetten kletterten.
    Das Tageslicht sticht ihr in die Augen. Ihr Mund fühlt sich an wie mit Watte gefüllt, und auf der Zunge klebt der Geschmack von Zigarettenrauch. Auf dem Couchtisch steht ihr aufgeklappter Laptop. Am Abend zuvor hat sie zwischen den Likören versucht zu rekonstruieren, was sie am 9. Oktober getan hat. Sie ist aus dem Hotel Caledonien

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