Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
zu dem am Lieferanteneingang wartenden Wagen geschlichen, der sie direkt zum Flughafen Kjevik brachte. Anderthalb Stunden später betrat sie ein anderes Hotel. Danach war sie joggen, um die Unruhe loszuwerden, die in ihrem Körper steckte, wann immer sie an all das dachte, was ihr am nächsten Tag bevorstand. Sie hat sogar einen Blick auf das Streckenprofil und die Straßenkarte geworfen, um sich zu vergewissern, dass ihre Erinnerung sie nicht trügt. Und sie hat versucht, unter all ihren Widersachern und Gegnern einen Namen und ein Gesicht auszumachen, aber ihr ist niemand eingefallen. Das heißt, es tauchten schon ein paar Kandidaten auf, während sie Glas um Glas leerte, aber keiner davon erschien ihr sehr wahrscheinlich.
Trine schiebt die Tür auf und lässt die frische Meeresluft herein. Dann geht sie in den Kleidern nach draußen, in denen sie geschlafen hat. Am liebsten würde sie sich den Finger in den Hals stecken, um das eklige Zeug wieder aus dem Körper zu kriegen, damit sie nicht den Rest des Tages damit verbringen muss, wieder zu sich zu kommen.
Auf dem Pinkelberg schiebt eine Böe sie einen Schritt zur Seite, während sie nach dem Hasen Ausschau hält, der in irgendeinem Erdloch verschwunden ist. Er ärgert sich jetzt sicher, dass er das Gebiet nicht länger für sich allein hat. Er ist menschlichen Besuch nicht mehr gewohnt. Früher sind sie häufiger hier gewesen, und einmal, als sie sich in eine Decke gehüllt gesonnt hat, ist ein Hase direkt an ihr vorbeigelaufen und nur wenige Meter von ihr entfernt sitzen geblieben, hat sie angestarrt und sie ihn.
Jetzt sieht sie nur noch das Meer. Einen endlosen Horizont, Himmel und Meer in weiter Ferne vereint, ohne dass sie den Übergang wirklich erkennen könnte. An den Schären spritzt die Gischt auf. Eiderenten paddeln im Wasser.
Trine geht zurück in die Hütte, holt ihr Handy und steigt wieder auf den Pinkelberg. Dort ist der Empfang in der Regel besser. Sie hat keine neue SMS von Katarina Hatlem erhalten. Vermutlich hatten sie noch keine Morgenbesprechung, denkt Trine, während sie sich fragt, wie lange ihre rotlockige Freundin wohl widerstehen kann. Die Informationsabteilung murrt sicher bereits, Trine weiß das, auch wenn Katarina nichts davon gesagt hat, als sie am Abend zuvor miteinander telefoniert haben. Und sicher gibt es nicht nur in diesem Punkt Gegenwind. Sie wagt gar nicht daran zu denken, worüber sie jetzt im Parlament und in der Partei reden. Und im Büro des Ministerpräsidenten.
Eine stattliche Yacht kommt hinter den Schären zum Vorschein, fährt an Rakke vorbei und pflügt durch die weißen Wellen. Trine dreht sich in den Wind. Der schnelle blaue Koloss kommt in den Wellen nicht einmal ins Schaukeln, während ihr eigenes kleines Boot am Ufer hin und her schwappt und voll Wasser läuft.
Etwas weiter unterhalb entdeckt sie den Hasen wieder, unter einem Busch. Er bleibt ein paar Sekunden hocken und nimmt Witterung auf, ehe er endgültig die Flucht ergreift. Und sie denkt, wie leicht es wäre, dort zwischen den Felsen, Büschen und Schären zu verschwinden, wie sie es sich in den letzten vierundzwanzig Stunden ausgemalt hat. Sie könnte eine Runde über den Küstenpfad drehen und einfach …
Trine schließt die Augen und stellt es sich vor. Sie hat keine Angst vor Schmerz oder Dunkelheit. Die Tür steht offen. Sie braucht nur hinauszutreten.
37
Kurz nach der Morgenbesprechung ist das ganze Ermittlerteam wie elektrisiert. Der Hinweis auf das vermisste Klassenfoto hat die Ermittlungen noch einmal neu belebt, und ein Großteil der Energie wird jetzt darauf verwendet. Sie sind in Kontakt mit den drei Schulen, an denen Erna Pedersen gearbeitet hat. Alles in allem kann es sich um Hunderte von Fotos handeln, Tausende von Schülern, aber jetzt haben sie wenigstens einen Ansatzpunkt. Sie haben auch um die Klassenlisten aus der Zeit von 1972 bis zu ihrer Pensionierung 1993 gebeten.
Gleichzeitig durchsuchen sie das Pflegeheim nach einem Steintroll mit Schlagkerben und möglicherweise sogar Fingerabdrücken oder anderen analysierbaren Spuren. Außerdem setzen sie die Verhöre jener Personen fort, die zur Tatzeit im Heim anwesend waren.
Bjarne hat den Auftrag bekommen, mit den fünf ehrenamtlichen Helfern zu sprechen.
Er weiß, dass er selbst niemals tun könnte, was diese fünf Freiwilligen leisten. Er könnte das nicht – wildfremde, einsame Menschen besuchen. Sie zum Arzt oder zum Friseur begleiten. Er wüsste beim besten Willen nicht,
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