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Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)

Titel: Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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»Falls Trine anruft«, sagt er.
    »Hast du etwas von ihr gehört?«
    »Sie hat mir gestern Nachmittag eine SMS geschickt, in der sie mir mitgeteilt hat, dass sie nicht nach Hause kommt. Sie hat nicht gesagt, wo sie ist, nur, dass sie allein sein will.«
    »Sie wird also nicht vermisst, wie einige Zeitungen spekulieren?«
    »Kommt drauf an …«
    Ein dunkler Schatten fällt über das kantige, wettergegerbte Gesicht. Obgleich er groß gewachsen und von kräftiger Statur ist, wirkt er in diesem Moment sehr, sehr klein.
    »Es kam schon häufiger vor«, sagt er dann, »dass sie abgehauen ist. An einem Sonntag vor ein paar Jahren habe ich sie einmal spätabends gefunden, weit draußen in der Nordmarka. Da hockte sie unter einem Baum, völlig weggetreten, und kam erst zu sich, als ich sie angefasst habe. Und sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie dorthin gekommen war.«
    »Was ist mit ihren Leibwächtern?«
    »Zu der Zeit hatte sie noch keine.«
    »Aber …« Die Worte bleiben Henning im Halse stecken.
    »Es gibt einen Fachbegriff dafür, was damals mit ihr passiert ist: dissoziative Fugue«, erklärt er und spricht den Fachterminus übertrieben deutlich aus. »Man geht einfach weg von der Arbeit, von daheim, scheinbar zielgerichtet, aber hinterher erinnert man sich an nichts.«
    Der Kellner kommt mit Osmundsens Kaffee in der einen und einer ganzen Kanne voll in der anderen Hand an ihren Tisch. Henning legt eine Hand über seine Tasse.
    »Woher kommt so was?«, fragt er, als der Kellner wieder weg ist.
    Osmundsen schüttelt schwach den Kopf. »Es ist nicht ganz klar, aber in der Regel handelt es sich um ein Trauma, gegen das der Körper sich zur Wehr setzt. Trine leugnet vehement, dass es irgendein spezielles Erlebnis gäbe, das Auslöser dafür sein könnte. Es kann auch an dem Arbeitsdruck und an der Überbelastung liegen. Ich konnte es ihr immer schon Tage, ach was, Wochen im Voraus ansehen.«
    »Trotzdem hat sie weiter als Justizministerin gearbeitet?«
    »Ja, etwas anderes kam für sie gar nicht infrage.«
    »Und die Medien haben nie davon Wind bekommen?«
    »Nein, sie haben geschluckt, was sie an Informationen bekommen haben, und es Depression genannt.«
    Henning versucht, die Information zu verdauen, die er eben bekommen hat. »Glaubst du, dass jetzt gerade etwas Ähnliches passiert sein könnte?«
    Osmundsen führt die Kaffeetasse zum Mund, trinkt einen Schluck und stellt die Tasse mit einem Klirren zurück. Dann breitet er die Arme aus. »Trine war schon immer ein taffes Mädchen. Ich habe mich irgendwie daran geklammert, dass Gegenwind dieser Art sie nur anspornt. Aber man kann nie wissen. Und es gefällt mir gar nicht, dass ich sie nicht erreiche.«
    »Wahrscheinlich hat sie einfach nur ihr Handy ausgeschaltet.«
    Osmundsen nickt nachdenklich und senkt wieder den Blick. Es wird still am Tisch.
    »Was denkst du über die ganze Sache?«, fragt Henning. »Hat Trine getan, was ihr vorgeworfen wird?«
    Osmundsen breitet wieder die Arme aus. »Gestern Morgen hat sie mir gesagt, dass es nicht stimmt. Dass die Vorwürfe gegen sie nicht wahr sind.«
    »Wenn es so ist, wieso sagt sie dann nichts zu ihrer Verteidigung? Wieso läuft sie einfach nur davon?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortet Osmundsen. »Das ist untypisch für sie. Keine Ahnung, was da gerade passiert.«
    In diesem Augenblick beginnt das Handy auf dem Tisch zu knurren. Henning sieht die Hoffnung in Osmundsens Blick, als er das Gerät hastig anhebt. Doch gleich darauf legt er es wieder weg und lässt es weiterklingeln.
    »Journalisten?«, fragt Henning.
    Osmundsen nickt. »In den letzten vierundzwanzig Stunden habe ich bestimmt zweihundert Anrufe bekommen.«
    Henning hat das Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber die Worte wollen nicht über seine Lippen.
    »Und du hast gar keine Idee, wohin sie sich zurückgezogen haben könnte?«, fragt er stattdessen. »Gibt es einen Ort, an den ihr euch zurückzieht, wenn ihr eure Ruhe haben wollt?«
    Osmundsen denkt nach, aber Henning sieht, dass er bereits resigniert hat. Kurz darauf entschuldigt er sich. Er muss wieder zur Arbeit. Eine wichtige Videokonferenz.
    Henning gibt ihm die Hand und sagt, dass er die Rechnung übernimmt. Und damit verschwindet der große Mann nach draußen in die große, schwere Ungewissheit.
    Als Henning ihm hinterherschaut, muss er an seinen Vater denken. In einem Porträt über Trine, auf das er am Vorabend gestoßen ist, erzählt sie davon, wie schwer der Tod des Vaters sie getroffen

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