Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
oben geht, sieht er, dass der Hausmeister Karl Ove Marcussen seinen Teil getan hat, um den Geiern das Leben schwer zu machen. Er hat das Namensschild abgeschraubt, auf dem CHRISTINE JUUL steht, und hoffentlich auch ihre Klingel und das Telefon gekappt und den Radio- und Fernsehempfang unterbrochen. Hennings Mutter ist eine der wenigen, die immer noch lediglich einen Festnetzanschluss haben.
Er schließt auf. Will sich erst bemerkbar machen, wenn die Tür hinter ihm zugefallen ist. Wie immer schlägt ihm Zigarettenrauch entgegen, dieses Mal aber nicht so stark wie sonst.
Er betritt die Wohnung und bleibt wie angewurzelt stehen, als er sie in der Küche sieht. Oder genauer: auf dem Küchentisch, den Kopf auf der Tischplatte. Neben ihr stehen eine leere Flasche und ein Schnapsglas.
Sie ist tot, denkt Henning und spürt im selben Moment eine Mischung aus Trauer und Erleichterung. Das erste Gefühl überrascht ihn. Das andere ruft prompt sein schlechtes Gewissen wach. Doch dann geht ein Zucken durch einen ihrer Finger, und sie bewegt den Kopf, als wolle sie ihn heben, aber es gelingt ihr nicht.
Aus der Trauer, die er gespürt hat, wird Enttäuschung, die bestimmt nichts damit zu tun hat, dass sie noch am Leben ist. Auch wenn er ihr und sich selbst schon manches Mal gewünscht hat, dass sie es bald hinter sich hätte. Sie ist eine Gefangene ihres Körpers und ihrer kranken Lunge.
Missmutig hilft er ihr auf. Sie ist völlig kraftlos. Er riecht an ihrem Atem, dass Worte keinen Sinn machen. Sie ist vollkommen betrunken. Nur einen kurzen Moment lang blitzt in ihren Augen etwas auf. Sie versucht zu fokussieren, und als sie ihn erkennt, wird aus der Erwartung Verachtung.
»Und ich dachte, es wäre Trine«, schnaubt sie.
Henning sieht sie an. Seufzt. Schluckt einen Kommentar hinunter. Dann versucht er, sie hochzuziehen, aber sie wehrt sich wie ein kleines Kind. Henning lässt sie wieder auf den Stuhl sinken, und ihr Oberkörper sackt zusammen. Er packt sie an den Schultern und spürt ihren vagen Versuch, seine Hände abzuschütteln. Aber dieses Mal hält er fest.
»Das Radio«, sagt sie benebelt. »Das tut’s nicht mehr. Kannst du das reparieren? Ich habe seit zwei Tagen kein Radio mehr gehört.«
Henning nickt, sagt, dass er es versuchen kann.
»Und der Fernseher auch«, ergänzt sie.
»Den guck ich mir auch an. Komm jetzt«, sagt er und will sie wieder hochziehen. »Du musst ins Bett. Hier kannst du nicht sitzen und schlafen.«
Wieder setzt sie sich zur Wehr.
»Komm schon, Mama, du musst ein bisschen mithelfen.«
Sie stinkt nicht nur nach Alkohol und Zigaretten. Ihre Kleidung ist seit Wochen nicht mehr gewaschen worden, und er will gar nicht wissen, wann sie das letzte Mal geduscht hat.
»Komm schon, mach uns das Leben nicht so schwer.«
Es kam schon vor, dass er zu Bestechungen greifen musste, wenn Jonas mal wieder nicht in den Kindergarten oder abends ins Bett wollte. Manchmal konnte er ihn mit einem Film, andere Male mit Pfannkuchen und Süßigkeiten bestechen. Wenn nichts davon half, gab es nur noch einen gangbaren Weg.
Macht.
Henning denkt an Jonas, als er seine Mutter hochhebt, ohne sich darum zu kümmern, dass sie zetert und ihn bespuckt. Er hört sie wieder nach Trine jammern, bevor sie ihre Zigaretten und ein Glas fordert, doch er trägt sie einfach aus der Küche ins Schlafzimmer. All ihre Befreiungsversuche führen ins Leere, und schließlich wird sie kurzatmig und beginnt, wild zu gestikulieren. Henning weiß gleich, was sie braucht. Er legt sie aufs Bett und holt das Sauerstoffgerät, und sie greift wie eine Süchtige nach dem Schlauch, schließt die Augen und berauscht sich an dem Gas, das den Schleim in ihrem Hals löst und ihr wieder Luft zum Atmen gibt.
Henning wird in diesem Moment bewusst, wie sehr wir uns ans Leben klammern, auch wenn jeder Pulsschlag schmerzt.
Während die Maschine brummt und lärmt, gewinnt sie langsam wieder die Kontrolle über sich. Und als ihr Körper zur Ruhe gekommen ist und ihre Lunge wieder normal funktioniert, lässt sie den Schlauch fallen und sinkt in die Kissen zurück. Sekunden später schläft sie fest.
47
Es ist, wie nach einem Knock-out aufzustehen, um gleich darauf den nächsten Schlag ins Gesicht zu kassieren. Gerade als sie die eine Spur in ihrem ersten Mordfall ad acta legen wollen, erhalten sie die Nachricht von einem zweiten Mord. Und das heißt, dass sie sich die nächsten achtundvierzig Stunden auf den neuen Fall konzentrieren müssen. Er hat
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