Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
vorbeigehen will.
»Hallo«, sagt der Journalist, ein untersetzter, dicker Mann mit schütterem Haar und einer Harry-Potter-Brille. »Wollen Sie kommentieren, was Ihre Schwester getan hat?«
Henning bleibt stehen, lächelt ihn an. »Ich werde den Teufel tun und euch einen Knochen hinwerfen, den ihr dann abnagen könnt.«
Die Journalisten tauschen schnelle Blicke.
»Nein, kein Kommentar«, schiebt Henning hinterher und geht an ihnen vorbei.
»Aber …«
Henning ignoriert ihre Rufe und geht schnellen Schrittes in Richtung Grønland. Es ist nicht weit zum Stargate , aber er geht vorsichtshalber einen Umweg und versichert sich immer wieder, dass ihm auch ja niemand folgt.
Die Kneipe hat gerade aufgemacht, als Henning ankommt. Kein schlechter Treffpunkt, denkt er. Der Arbeitsplatz von Pål Fredrik und das Haus des Ehepaares Juul-Osmundsen werden sicher von Presseleuten belagert. In einem solchen Etablissement vermutet ihn sicher niemand.
Henning bestellt sich eine Tasse Kaffee und setzt sich in den hintersten Winkel des Lokals. In der dunklen Einrichtung lässt sich gut untertauchen.
Pål Fredrik Osmundsen kommt eine Viertelstunde nach Henning. Grauer, eleganter Anzug. Mit seinen roten, dunkel geränderten Augen könnte er genauso gut eine durchzechte Nacht hinter sich haben. Henning erkennt ihn von den Bildern aus der Zeitung kaum wieder.
Pål Fredrik Osmundsen ist Diplomkaufmann. Er hat an der Norwegian Business School studiert und als Anlageberater gearbeitet. Inzwischen betreibt er einen Asset- und Managementfonds, der auf europäische Investitionen setzt. Wie viele Millionen er wert ist, weiß Henning nicht. Sicher einige. Darüber hinaus hat er sich als Abenteurer ausgezeichnet. Die Zeitschrift Wir Männer hat vor einigen Jahren eine Reportage über ihn gebracht und Fotos von seinen Besteigungen des K2 und Kilimandscharo und einer Skitour durch Grönland abgedruckt. Am Radrennen Trondheim-Oslo nimmt er regelmäßig teil, und beim Birkebeiner-Rennen gehört er mehr oder weniger zum Inventar.
Henning winkt dem durchtrainierten Mann zu, der sich zwischen den Stühlen und Tischen den Weg zu ihm bahnt, und steht zum Gruß auf. Osmundsen ergreift Hennings ausgestreckte Hand und drückt sie fest. Sie setzen sich, wechseln rasche Blicke über die Tische hinweg. »Ein kurioser Ort für ein erstes Treffen mit meinem Schwager«, sagt Osmundsen schließlich.
Henning lächelt.
»Bist du als Journalist hier oder als Bruder?«
Henning antwortet nach einer kurzen Pause. »Ich bin jobmäßig in dieser Sache disqualifiziert«, sagt er dann, »eben weil ich Trines Bruder bin.«
»Warum sind wir dann hier?«
»Weil ich …« Henning hält inne. »Weil mich etwas an der Sache stört, ohne dass ich den Finger darauf legen könnte. Vielleicht ist es das Opfer , das …« Er sucht nach den richtigen Worten. »Ich bin einfach skeptisch.«
Ein Kellner tritt an ihren Tisch und nimmt Osmundsens Bestellung auf, eine Tasse Kaffee und ein Glas Wasser. »Aber wenn du nicht über die Angelegenheit schreiben kannst«, sagt er, als der Kellner wieder verschwunden ist, »wie willst du ihr dann helfen?«
Henning zögert die Antwort hinaus. »Ich weiß es noch nicht genau«, sagt er dann. »Ich habe mich noch nicht einmal ordentlich mit der Thematik befasst.«
Osmundsen nickt.
Draußen fährt ein Krankenwagen mit Sirene vorbei, einen kurzen Augenblick füllt der Ton das Lokal und verhallt danach wie eine sterbende Klage.
»Sie bringt mich um, wenn sie herausfindet, dass wir miteinander geredet haben«, sagt Osmundsen schließlich.
Henning legt den Kopf schräg. »Wieso das?«
»Na ja, ihr seid ja nicht gerade die dicksten Freunde.«
Henning senkt den Blick, schaut in eine Vergangenheit, die sich vor seinem inneren Auge öffnet. »Nein, das sind wir wohl nicht. Dabei weiß ich eigentlich gar nicht genau, wieso, aber …«
»Ist das wahr?«
Henning nickt.
Die Bilder von Trine tauchen in letzter Zeit immer öfter auf. Wie ungebetene Gäste. Er hört ihre Stimme, dünn und zerbrechlich. Sieht ihren Blick, matt und abwesend. Und wüsste gern, würde gern verstehen, wann und weshalb es zum Bruch zwischen ihnen gekommen ist.
»Hat sie mit dir darüber geredet?«, fragt er.
Osmundsen schüttelt den Kopf.
»Ich habe sie gefragt, nicht nur einmal, aber sie hat nie eine Silbe darüber gesprochen.«
Henning nickt nachdenklich.
Osmundsen zieht sein Handy aus der Innentasche und legt es mit der Rückseite nach oben auf den Tisch.
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