Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
sie sie noch niemals zuvor gespürt hat.
Er macht einen Schritt auf sie zu. Hört seinen gleichmäßigen Herzschlag in den Ohren, hart und schnell. Er versucht krampfhaft, seinen Blick zu schärfen, aber schon wieder sieht er alles wie durch einen Schleier. Er schluckt, blinzelt, atmet so tief ein, wie er kann, aber der Raum verändert sich nicht. Die Details dringen nicht zu ihm durch.
Warte, sagt er zu sich selbst. Hab Geduld.
Er drückt sich die Fingernägel in die Handballen, merkt aber nichts. Es tut nicht weh. Die Tabletten wirken. Und das ist gut so.
Er blinzelt wieder. Sieht sie plötzlich ganz klar vor sich.
»Du schuldest mir eine Entschuldigung«, sagt er.
Hochgezogene Augenbrauen.
»Ich? Wofür denn?«
Da verschwimmt ihr Bild wieder vor seinen Augen, er spürt keinen Kontakt zwischen seiner Hand und dem Bild an der Wand, hört nur das Splittern von Glas. Johanne reißt die Hände vors Gesicht, um sich zu schützen. Als sie sie wieder hinunternimmt, schlägt er zu. Sie fällt nach hinten und schlägt mit dem Hinterkopf auf die Tischkante. Danach ist es still.
Noch nicht, redet er sich ein und wartet, dass sich der Schleier vor seinen Augen wieder lichtet. Warte!
Als er endlich wieder klar sieht, erkennt er, dass die Jahre sie verändert haben, aber die Verachtung ist noch immer da. Gegen ihn, den Jungen, der ihr an jenem kalten Freitagabend 1994 das Leben gerettet hat.
Es war ein Freitag wie alle anderen Freitage in Jessheim. Sie waren in der Kneipe Gartneriet gewesen, und Emilie und Johanne taumelten wie üblich Arm in Arm, aufgedreht und im Slalom über den Bürgersteig. Sie machten einen Abstecher zum Imbiss bei der Esso-Tankstelle gleich neben der Ampel, um was zu essen. Und wie üblich war Emilie von Jungs umringt.
Auch er war dort, gemeinsam mit ein paar Kumpeln, und sah sich die versoffene Fresserei an, die eine unverhoffte Wendung nahm, als Johanne sich mit einem Mal verschluckte und keine Luft mehr bekam. Emilie drehte völlig durch und schrie, so laut sie konnte, dass verdammt noch mal irgendwer Johanne helfen sollte, und im Schein des Imbissbudenlichts beobachtete er, wie alle um ihn herum wie zu Salzsäulen erstarrt dastanden, während sich Emilies Schreie schmerzhaft in seine Gehörgänge bohrten. In diesem Moment senkte sich eine merkwürdige Ruhe über ihn. Eigentlich hätte er am liebsten einfach nur zugesehen, wie die Lichter langsam ausgingen. Wäre da nicht Emilie gewesen. Die süße, tolle Emilie, die ganz aufgelöst war und wie am Spieß schrie.
Er lief zu Johanne, deren Lippen sich langsam lila färbten. Er musste sich zwingen, sich von dem Anblick loszureißen und sich den Erstehilfekurs in Erinnerung zu rufen, den sie gerade in der Schule absolviert hatten. Er dachte an die weiche, grotesk steril schmeckende Kunststoffpuppe, auf deren Mund er seine Lippen gedrückt hatte. Dann wandte er den anderen Handgriff an, den sie gelernt hatten, stellte sich hinter sie, hob sie hoch und drückte zu.
Plötzlich konnte Johanne wieder atmen.
Sie stand da, spuckte und hustete, rotzte und schluchzte.
Hinterher warf Emilie sich ihm an den Hals und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Ein paar Wochen lang. Johanne kam fast nicht damit klar, dass sich jemand zwischen sie und ihre Busenfreundin schob.
Und, was hast du jetzt vor? Wollt ihr jetzt heiraten oder was?
Er weiß, dass sie sich nicht bei ihm entschuldigen wird. Ebenso wenig wie die anderen. Er beugt sich vor und wartet, bis ihre Augenlider zucken. Als sie die Augen aufschlägt, macht sie Anstalten zu fliehen, aber sie kommt nicht vom Boden hoch. Panisch sieht sie sich um, sie strampelt und schreit, und er drückt fest zu, während er sich selber ermahnt, ganz ruhig zu bleiben. Denk daran, du willst es sehen, du willst es sehen, wiederholt er für sich selbst, als er sich rittlings auf sie setzt. Ihre Knie treffen ihn im Rücken, sie tritt in die Luft, die Arme fuchteln wild herum, versuchen, seinen Pullover und seine Handschuhe zu packen. Und als er noch fester zudrückt und merkt, wie sie zusammenfällt wie ein Ballon, aus dem langsam die Luft entweicht, da sieht er es.
Er sieht es.
Und es ist wirklich das Fantastischste, was er je gesehen hat.
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Zwei Journalisten stehen vor dem Eingang von 123nyheter , als Henning parkt und aus dem Wagen steigt. Er kennt sie nicht, versucht, sie zu übersehen, indem er demonstrativ an den Herbsthimmel schaut, aber einer der beiden stellt sich ihm in den Weg, als er gerade an ihnen
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