Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
das Gefühl, als würde der Stapel der zu bearbeitenden Dinge immer höher.
Bjarne parkt vor der Polizeiabsperrung neben einigen Streifenwagen. Er bleibt einen Moment lang sitzen und beobachtet, wie das Abendlicht auf die vom Dauerregen der letzten Tage nassen Hausdächer fällt. Ein neues Tief ist im Anmarsch.
Wie üblich hat sich bereits eine hübsche Ansammlung Schaulustiger eingefunden und steht in neugieriger Andacht zusammen, angetrieben von einer morbiden Erwartungshaltung. Bjarne begegnet Emil Hagen am Eingang des Hauses.
»Was genau ist passiert?«, fragt Bjarne.
Hagen schiebt sich eine Portion Snus unter die Oberlippe.
»Eine Frau Mitte dreißig ist erwürgt worden. Vorher scheint es einen Kampf gegeben zu haben.«
Bjarne hebt den Blick und mustert den Wohnblock. Graue Mauern mit verschmierten Graffiti. Fenster mit Blick auf die Stadt. Dahinter wirkt jedoch alles dunkel wie unbewohnt. Das Absperrband zieht sich um das ganze Haus herum. Rechts und links blinken Blaulichter an einem weiteren grauen Oslotag.
»Das Opfer heißt Johanne Klingenberg«, erklärt Hagen.
»Wer hat sie gefunden?«, fragt Bjarne.
»Die Nachbarin. Sie ist gleichzeitig auch die Vermieterin. Sie hat die Katze jaulen hören. Das scheint ein Dauerthema gewesen zu sein – auf jeden Fall hat sie geklopft und wollte dem Spektakel ein Ende machen. Als sie keine Antwort erhielt, hat sie einfach die Klinke hinuntergedrückt. Die Tür war offen.«
»Und von alldem, was da vorher passiert ist, hat sie nichts mitbekommen?«
»Nein.«
»Haben andere Nachbarn etwas gehört oder gesehen?«
»Keine Ahnung«, sagt Hagen. »Ich bin selber gerade erst gekommen.«
Bjarne sieht sich um. »Ich gehe hoch und sehe mich mal um.«
»Gut«, antwortet Hagen. »Ich klappere dann wohl mit Sandland die Nachbarn ab.«
Das Treppenhaus riecht nach Schimmel. Eine Lampe hängt schief, die Glühbirne fehlt. Die Miete ist bestimmt ebenso hoch wie bei Daniel Nielsen, denkt sich Bjarne, auch wenn hier die Wände noch eine Spur dunkler und speckiger wirken.
Die Tür zur Wohnung des Opfers in der zweiten Etage steht offen. Er tritt ein und erkennt bekannte Gesichter. Auch die Kriminaltechnikerin Ann-Mari Sara ist da.
»Du bist ja wohl auch überall«, sagt Bjarne.
»Wenn in dieser Stadt so viele Leute sterben …«
Sara macht Fotos, während Bjarne ins Wohnzimmer hinübergeht. Die Kampfspuren sind unübersehbar. Ein Kissen liegt am Boden. Der Glastisch ist umgestürzt, ohne dass er aber zerbrochen wäre. Fernbedienungen liegen auf dem Boden verstreut, aus einer sind die Batterien herausgefallen. Der braune, abgetretene Teppich unter dem Tisch ist verrutscht, vermutlich als der Tisch darüber beiseitegestoßen wurde. Die Scherben einer Porzellantasse liegen in einer karamellfarbenen Lache. Tee, denkt sich Bjarne, die schwarzen Klümpchen drum herum, das ist Tee. Oder Snus? Oder vielleicht auch Zigarettenasche.
Das Opfer liegt auf dem Rücken auf dem Sofa. Das lange Haar rahmt den Kopf der Frau ein wie ein Kranz. Neben ihr liegt ein Haargummi, braun wie der Sofabezug. Ein Bein liegt schräg über dem Sofakissen. Sowohl die Hose als auch die weiße, feuchte Bluse – Schweiß, möglicherweise – sind unversehrt.
Da erst sieht Bjarne, dass auch das Sofakissen unter ihr feucht ist. Er mag den Gedanken nicht, dass die Blase sich im Augenblick des Todes entleert. Ein solcher Abschluss eines Lebens hat etwas Unwürdiges. Eine Schwachstelle der Natur.
Aber sie trägt Kleider, denkt er. Also kein sexuelles Motiv. Und die Kampfspuren stimmen ihn optimistisch. Sie erhöhen die Chance, verwertbare Spuren zu finden. Und sie brauchen jetzt wirklich einen schnell zu lösenden Fall.
»Hat sie allein gewohnt?«, fragt er.
»Sieht so aus«, bemerkt Sara. »Nur eine Zahnbürste im Bad.«
Wieder ein Foto, Bjarne ist ein paar Sekunden von dem Blitzlicht geblendet, bevor er sich weiter umsehen kann.
Auf dem Fensterbrett steht eine Rotweinflasche mit einer Kerze. Er hätte erwartet, dass eine Frau Mitte dreißig Blumen im Fenster hat, wenigstens ein paar, doch hier stehen nur Lampen und Kerzenständer. Vereinzelt hängen Bilder an den Wänden.
Saras Kamera löst wieder aus. Und irgendwie hilft ihm das grelle, künstliche Licht, schärfer zu sehen. Bjarne tritt an die Wand und sieht sich eine der gerahmten Fotografien an, die dort hängen.
Das Glas ist zerbrochen.
Er tritt noch einen Schritt näher und bekommt eine Gänsehaut. Durch die Glassplitter lächelt ihn ein
Weitere Kostenlose Bücher