Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
vielleicht zweijähriger Junge an.
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Henning ist nicht oft hier oben. Und so wie er die Tür des Verschlags geöffnet und den Kopf hineingeschoben hat, wünscht er sich spontan, er wäre nicht heraufgekommen. So viele Erinnerungen lagern hier. In sämtlichen Gegenständen, in den Kartons mit Kleidern, Spielsachen, alten Schuhen, die jetzt natürlich viel zu klein wären. Ein alter Roller, ein paar Schlittschuhe. Er kann sich einfach nicht davon trennen. Hat Angst, dass Jonas sich noch weiter entfernen würde, wenn er seine Sachen wegwürfe. Allein der Gedanke daran ist unerträglich.
Trotzdem arbeitet er sich weiter vor und findet schließlich, was er sucht. Er nimmt den Karton mit nach unten in seine Wohnung und wischt den Staub vom Deckel, ehe er ihn abnimmt. Stapel von Fotokopien. Ein altes Fotoalbum. Die Bilder von Jonas lässt er ganz bewusst beiseite. Er ist auf der Suche nach Fotos von Trine und ihm, nach den Collagen, die ihre Mutter ihnen zu Weihnachten geschenkt hat, als sie zehn und zwölf Jahre alt waren.
Die Idee ist ihm gekommen, als er das alte Bild von Jonas, Nora und sich selbst auf dem Kaminsims seiner Mutter gesehen hat. Plötzlich ist ihm bewusst geworden, wie viel er über Trine vergessen hat. Er bläst in den Karton hinein, und Staub wirbelt auf. Er lehnt sich einen Moment zurück, und dann beginnt er, die Bilderstapel durchzugehen. Es dauert nicht lange, bis er das richtige Album gefunden hat.
Er schlägt es auf. Die erste Seite ist leer. Danach: ein Bild von Trine und ihm als Kleinkinder, mit anderthalb Jahren Altersunterschied. Sie liegen auf derselben Kommode und schauen mit wachem Blick in die Kamera. Henning staunt, wie ähnlich sie sich sehen.
Weitere Kinderfotos von ihnen beiden, zwei Winzlinge nebeneinander auf dem Boden. Henning hat einen geraderen Rücken als jeder Pastor, und er streckt eine Hand zu Trine aus, die auf dem Rücken liegt, die Arme in die Höhe gestreckt. Spiel und Lachen. Bilder im Gitterbettchen. Wie sie mit mattem Blick und fieberheißer Stirn unter einer Decke auf dem Sofa liegen. Bilder von Kindern, die älter werden. Bilder von Kindergeburtstagen, Weihnachtsfesten, vom Strand bei der Hütte in Stavern, wo sie Steine übers Wasser springen ließen. Zwei Einsen auf einem Sahnekuchen, Trines elfter Geburtstag. Trine mit aufgeblähten Wangen vor den Kerzen.
Was habe ich getan?, fragt sich Henning. Was habe ich getan, dass Mama mich so hasst und Trine vergöttert?
Henning sieht wieder auf das Fotoalbum hinab. Steinstrände, Schären, Boote im Skagerrak. Er kann sich kaum erinnern, wann er zuletzt in der Hütte in Stavern war. Er erinnert sich aber noch daran, wie sich das kleine Dorf und die Hütten Mitte August leerten. Die Sonnenanbeter aus den Nachbarhütten verschwanden, bevor die Schule wieder begann, so war es immer. Wenn sie im September die Hütte winterfest machten, hatten die anderen Nachbarn dies längst getan. Sollte das Meer doch ohne Zuschauer wüten.
Plötzlich weiß er, dass Trine, wenn sie einen Ort sucht, an dem sie Ruhe vor der Welt hat, nur dort sein kann.
Es regnet schon wieder, als Bjarne aus dem Haus tritt. Kalter Regen mit dicken Tropfen. Aber er lässt sich weder von dem Regen noch von der kalten Herbstluft beeindrucken. Er ist von einer inneren Unruhe ergriffen, von einem Fieber angestachelt, das sich in seinem ganzen Körper ausbreitet.
Zwei Morde im Abstand weniger Tage, zwei Tatorte mit teilweise identischen Spuren. Das kann doch kein Zufall sein. Das Bild könnte ohne Weiteres bei dem Kampf zerschlagen worden sein. Auch Erwürgen ist keine seltene Todesursache.
Erna Pedersen wurden nach ihrem Tod die Augen zerstochen.
Und dennoch.
Bjarne trifft Emil Hagen vor dem Hauseingang wieder. Der Regen nimmt zu, weshalb sie sich in einen der Wagen setzen. Das Wasser trommelt auf die Windschutzscheibe und fließt in breiten Rinnsalen über das Glas ab.
»Ich habe die Notrufzentrale kontaktiert«, sagt Bjarne. »Kein Anruf von ihrem Anschluss.«
Hagen fährt sich mit der Hand über das nasse Gesicht und wischt sie sich dann an der Hose ab. »Ich habe mit den Nachbarn gesprochen, die zu Hause waren«, sagt er. »Keiner von ihnen hat irgendetwas gehört.«
Bjarne versucht, durch die Scheibe vor ihm zu blicken. Sie ist von innen leicht beschlagen. Draußen gehen zwei Beamte vorbei, die miteinander reden, aber ihre Worte dringen nicht zu ihnen durch.
»Aber eine Sache ist interessant«, sagt Hagen. »Das Opfer hat vor zwei Wochen einen
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