Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
die Wolken zu erreichen. Sie haben dort Radschlagen geübt, Frisbee gespielt und vergessen zu essen, weil sie solchen Spaß hatten. Am Horizont erstreckt sich das Meer, blau, weit und schön.
Henning fährt an den Mülltonnen vorbei bis ans Ende des Weges. Im Donavall Camping stehen die Wohnwagen in Reih und Glied, mit Zäunen, Steinplatten und Gartenmöbeln unter Plastikplanen. Es ist alles noch genauso, wie er es in Erinnerung hat.
Der Parkplatz für ihre Hütte taucht wenige Meter vor ihm auf. Aber da steht kein Auto. Trine ist nicht hier. Hier ist niemand.
Er hat sich also doch geirrt.
Dann sieht er weiter vorne auf dem Kiesweg frische Reifenspuren. Als wären ein oder zwei Autos bis an den Waldrand gefahren. Sie sind zum Abladen auch immer so dicht wie möglich an den Trampelpfad herangefahren. Danach kam dann der anstrengende Teil durch das Wäldchen, voll bepackt mit Taschen und Körben und Lebensmitteltüten. Trine und Henning haben immer mit anpacken müssen und waren über die Wurzeln gestolpert, die allesamt wie Kreuzottern aussahen. Und jedes Mal, wenn es im Unterholz raschelte, sind sie vor Schreck in die Luft gesprungen, ängstlich, wie nur Kinder es sein können. Aber es war ein wunderschöner Wald mit dichtem Baumwuchs, ineinander verschlungenen Lianen, weiß strahlenden Buschwindröschen im Frühling, die sich wie ein Teppich über die braunen Blätter legten. Und die Aussicht, wenn sie es bis auf den Berg schafften und sich der ganze Skagerrak vor ihnen ausbreitete, mit seinen Booten und Schiffen, die weiße Bänder über die spiegelblanke blaue Meereshaut hinter sich herzogen.
An all das erinnert er sich plötzlich wieder.
Wenn ich schon mal da bin, denkt er sich, kann es auch nicht schaden, einen Blick auf das Haus zu werfen. Er liebt das Meer und hat als Kind mit Begeisterung versucht, die Felsen im Wasser mit Steinen zu treffen. Er liebte es zu schnorcheln, am Meeresgrund nach Flundern Ausschau zu halten und beim Schwimmen dem wiegenden Zeitlupentanz des Tangs und Seegrases zuzuschauen.
Henning stellt den Wagen ab und spaziert über den Pfad, der ihm heute irgendwie fremd vorkommt und der doch seltsam vertraut ist. Er hält noch immer nach Kreuzottern Ausschau. Und auch das Gefühl, als er den höchsten Punkt erreicht und das Meer wiedersieht, ist das gleiche. Als würde sich ein Knoten in ihm lösen. Er bleibt stehen und blickt über die blaue Fläche, an deren Ende der Himmel einen rosa Abendschimmer angenommen hat.
Er denkt wieder daran, wie Trine und er am Steinstrand gespielt und wie sie Rauschbeeren und schwarze Krähenbeeren gepflückt haben, die so ähnlich wie Blaubeeren aussehen und die er jeden Sommer wieder, viele Jahre lang, auch Blaubeeren genannt hat. Trine hat ihn jedes Mal wie eine Oberlehrerin korrigiert. So hat er sie in Erinnerung. Obgleich sie anderthalb Jahre jünger ist als er, sieht er sie mit erhobenem Zeigefinger und hört sie mit einem Tonfall sprechen, unter dem die meisten den Kopf eingezogen hätten. Auch beim Kartenspielen. Sie lernte extrem schnell und war eine echte Strategin. Wenn sie mit ihrer Mutter spielten, überließ die es am liebsten den Kindern zu gewinnen. Trine hat das immer gehasst.
Henning bleibt stehen und atmet tief durch, ehe er weiter zu den blauen, nebeneinanderstehenden Hütten geht. Er weiß noch genau, wo er immer gepinkelt hat. Sie hatten immer nur ein einfaches Plumpsklo, und er wäre nie im Leben in diese kleine Bude gegangen, wo so viele Fliegen herumschwirrten und es von Spinnen und Weberknechten nur so wimmelte. Und er erinnert sich an die Möwen, die sie mit Krabbenschalen und Fischresten gefüttert haben. An die Kormorane, die Austernfischer und die Schwäne, die ihn mit ihrem Flug jedes Mal wieder faszinierten. Die Eiderenten.
Am Horizont steht der Leuchtturm von Tvistein. An klaren, schönen Sommerabenden kann man bis nach Jomfruland blicken. Wenn er sich ein wenig konzentriert, kann er vielleicht sogar die Zigarren seines Vaters riechen, den Duft der Ferien. Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem das blinkende Sternenmeer klarer ist als hier.
Henning bleibt wie angewurzelt stehen, als er sieht, dass die Hüttentür offen steht.
Im ersten Moment denkt er an einen Einbruch. Die ungebetenen Gäste mit den langen Fingern werden in den winterverwaisten Hütten immer zahlreicher. Aber in der nächsten Sekunde weicht die Unruhe einer tiefen Erleichterung, als er neben dem dunkelbraunen Ausguss vor der Hauswand einen Teller
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