Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
im wachen Zustand immer wieder melden.
Es ist mitten in der Nacht. Sie ist von Geräuschen über den Flur wach geworden. Rhythmisches Knarren. Leises Stuhlscharren. Erneutes Knarren.
Trine steht auf, geht zur Tür, sieht gedämpftes Licht in Hennings Zimmer. Hört Geräusche, die lauter werden, Atem, der schneller geht. Ganz langsam schleicht sie näher. Und der Anblick, als sie durch den Türspalt guckt …
Trine schließt die Augen.
Sie war hinterher nicht mehr in der Lage, ihrem Vater oder Henning in die Augen zu schauen. Sie hat gehofft, dass es mit den Jahren leichter würde, aber es ist heute noch immer genauso schwer wie damals.
Trine versucht, die Bilder zu verscheuchen, die Gedanken, ärgert sich, dass sie Henning nicht mit auf den Weg gegeben hat, dass er niemandem sagen dürfe, wo er sie aufgespürt hat. Aber irgendetwas in ihr sagt ihr, dass Henning ohnehin nichts sagen wird. Er versteht sie.
Trine setzt sich, nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche, spürt den Schmerz in den Beinen, die Blasen an den Fersen. Selbst die Fußsohlen tun ihr weh. Sie würde jetzt gerne duschen. Oder im Meer baden, wenn das Wasser im Herbst nicht nur dreizehn, vierzehn Grad hätte. Vielleicht sollte sie einfach springen und sich auf den Grund sinken lassen. Auf dem Küstenpfad hat sie die Gelegenheiten nicht genutzt, über die Kante hinauszutreten. Sie hat es einfach nicht fertiggebracht.
Vielleicht weil sie es nicht wirklich wollte. Weil sie gehofft hat, dass sich ihr auf der langen Wanderung am Meer entlang die geniale Lösung offenbaren würde.
Trine zieht ihr Handy hervor und liest die letzte SMS , die vor knapp einer Stunde von Katarina Hatlem gekommen ist und auf die sie noch nicht geantwortet hat.
Es lässt sich nicht länger hinauszögern, Trine. Klare Order aus dem MP-Büro: »Sie muss diesem Unsinn ein Ende machen oder gehen.« Ist Dir eine Lösung eingefallen?
Zum zigsten Mal wägt Trine die Alternativen gegeneinander ab. Soll sie sich den Vorwürfen stellen und sagen, wo sie an jenem Abend gewesen ist und was sie getan hat? Auch das würde zu einer öffentlichen Verurteilung führen und ihrer politischen Laufbahn ein Ende setzen. Oder soll sie sich weiter bedeckt halten, sich tot stellen, in aller Stille zurücktreten, aus Angst, das Beste in ihrem Leben zu verlieren?
Du wirst es ohnehin verlieren, denkt sie sich, wenn du dich der Forderung des Ministerpräsidenten widersetzt.
Sie hat keine Alternativen.
Und wieder ist sie wütend auf sich selbst, weil sie nicht den Mut hat, die Lösung ihrer Probleme auf dem Meeresgrund zu suchen oder am Rand einer Klippe – solange sie noch die Chance dazu hat. Feigling, denkt sie.
Andererseits ist es genauso feige, einfach wegzulaufen und vor seinen Problemen zu fliehen. So etwas sieht ihr doch gar nicht ähnlich. Gut, es ist notwendig, bestimmte Dinge aus der Vergangenheit zu begraben. Bestimmte Dinge müssen tief in die Erde, damit sie nicht zu stinken beginnen. Und bis jetzt haben die Journalisten sich noch nicht bis zu den Leichen durchgebuddelt.
Aber welche Garantie hat sie, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt, wenn er oder sie seinen Willen bekommen hat?
Keine.
Trine schüttelt den Kopf. Egal was sie tut, es wird falsch sein.
52
Im Besprechungsraum in der sechsten Etage des Präsidiums drängeln sich uniformierte Beamte und zivil gekleidete Kriminalermittler. Sie alle haben ihre Aufmerksamkeit auf das Ende des Sitzungstisches gerichtet, an dem Arild Gjerstad gerade eine Kaffeetasse an die Lippen führt. Der rechteckige Tisch liegt voller Papiere, dazwischen stehen Tassen in den verschiedensten Farben und halb volle Flaschen. Auf dem Smartboard an der Wand steht mit großen Buchstaben der Name JOHANNE KLINGENBERG . Vorläufige technische Funde sind darunter in Stichworten aufgelistet.
Gjerstad stellt seine Kaffeetasse weg und tritt an die Tafel.
»Es ist höchst wahrscheinlich, dass der Täter im Bekanntenkreis des Opfers zu suchen ist«, sagt er. »Haben wir eine Übersicht über ihre nächsten Kontakte?« Gjerstad lässt seinen Blick über die Versammlung schweifen.
Fredrik Stang, ein Kommissar mir ultrakurzen, dunklen Haaren und einem von ernsten Falten geprägten Gesicht, ergreift das Wort. »Wenn der Kalender in ihrem PC stimmt, war sie heute um zwölf mit einer gewissen Emilie zum Lunch verabredet. Das Opfer hat ein offenes Facebook-Profil, und in ihrer Freundesliste gibt es nur eine Freundin mit Namen Emilie. Emilie Blomvik.«
»Mit der
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