Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
abgekaut. Wie früher.
Sie sieht ihm nicht in die Augen. Wüsste er es nicht besser, würde er denken, sie hätte Angst vor ihm.
»Ich habe dein Auto nicht auf dem Parkplatz gesehen«, stellt er halb fragend fest.
»Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Ich habe es natürlich woanders abgestellt. Und ich bin auch nicht in meinem eigenen Wagen hierhergefahren.«
Trine schüttelt den Kopf, und für einen Moment haben sie Augenkontakt, lange genug, dass er wieder seine Mutter in ihr sieht. Die gleiche Wut. Die gleiche Verachtung. Als wäre es ihr unangenehm, in einem Raum mit ihm zu sein.
»Ich auch nicht. Ich habe gar kein eigenes Auto«, sagt er und probiert zu lachen.
Trine ist weit davon entfernt, sich zu entspannen.
»Hast du eine Wanderung gemacht?«
Trine schaut auf die Uhr, danach aufs Meer.
»Und, wie viele blaue Punkte hast du gefunden?«
Bei der Erinnerung muss Henning lächeln. Es war ein Wettkampf zwischen ihnen, wer die blauen Markierungen entlang des Küstenpfads zuerst entdeckt. Damals war ihnen die Natur egal, es ging nur um den Wettkampf. Und Trine wollte immer gewinnen. Immer.
»Wie weit bist du gegangen?«, fragt er.
Trine dreht sich wieder zu ihm. »Bis nach Stavern«, sagt sie leise.
»Stavern?«, ruft Henning fast. »Bis ganz nach Stavern? Und wieder zurück?«
Sie nickt kaum sichtbar.
»Wie weit ist das?«
Trine schaut wieder auf ihre Uhr. »12,21 Kilometer«, sagt sie. »Einfacher Weg.«
»Dann bist du also …«
Sie seufzt genervt. »Was willst du, Henning?«
Er sieht sie an. Eine Haarsträhne, nass und dunkel, ist unter der Mütze hervorgerutscht. Der Wind packt sie und weht sie ihr vor die Augen.
»Können wir nicht reden, Trine?«
»Nein.« Die Antwort kommt brüsk. »Ich habe keine Lust, mit dir zu reden.«
Henning sucht eine Erklärung in ihrem Blick, findet aber nur Abwehr.
Wieder schaut sie aufs Meer, ehe sie einen Schritt in die Hütte macht. Sie sieht, dass ihr Laptop-Bildschirm aktiv ist. »Schnüffelst du auf meinem Computer herum?«
»Nein, ich …«
Trine ist mit einem Schritt am Tisch und schlägt den Bildschirm zu. »Sieh zu, dass du hier rauskommst!«
Henning will protestieren, sieht aber ein, dass es wenig Sinn hätte.
»Raus mit dir«, wiederholt sie ihre Aufforderung.
Er steht auf, hebt beschwichtigend die Hände. Er macht ein paar Schritte, dann bleibt er stehen und sieht sich um. Ihre Wangen sind vom Wind gerötet. Wieder setzt er an, etwas zu sagen, aber die vernünftigen, erlösenden Worte kommen nicht.
»Schick ihnen wenigstens eine kurze Nachricht, dass du noch lebst«, sagt er schließlich. »Es machen sich wirklich viele Leute Sorgen um dich.«
»Ja, ganz sicher.«
»Das ist mein Ernst, Trine.«
Sie schnaubt. »Das schlechte Gewissen kommt ein wenig zu spät, würde ich sagen.«
Henning fällt dazu keine Antwort ein.
»Jetzt hast du ja gesehen, dass ich lebe«, sagt sie und zeigt zur Tür. »Da kannst du dich auch wieder verziehen.«
»Aber …«
»Bitte, sei so gut, Henning. Hau einfach ab.«
Sie sieht plötzlich ungemein verletzlich aus, höchstens eine Sekunde oder zwei, aber lang genug, dass es ihm auffällt. Sie stellt sich in den Türrahmen und dreht ihm den Rücken zu.
Henning bleibt noch ein paar Sekunden stehen und betrachtet sie, ehe er ihrem Wunsch folgt. Er verlässt die Hütte, geht an der zugewucherten Regenrinne seines Vaters vorbei, hinauf auf den Berg, wo er noch einmal stehen bleibt und sich umdreht. Er lässt den Blick über das Dach der Hütte schweifen, über das Meer, das jetzt so schwarz ist wie der Abend. Er hört Möwenschreie, sieht weit draußen ein Boot, ganz klein vor dem unendlichen Hintergrund. Und er denkt, dass das weite, offene Meer auch viele Fragen birgt, die vielleicht niemals beantwortet werden.
51
Trine sieht Henning oben über die Kuppe verschwinden. Sie wartet, lauscht, bis es wieder still ist. Wartet noch etwas länger, bis sie sich ganz sicher sein kann, dass er weg ist.
Henning.
Sie hat natürlich mitbekommen, dass er wieder angefangen hat zu arbeiten. Sogar einige seiner Artikel hat sie gelesen – den letzten, über den Mord an Tore Pulli, erst vor wenigen Tagen. Aber ihr Magen verkrampft sich jedes Mal, wenn sie etwas von ihm liest. Wenn sie sein Porträt mit dem vernarbten Gesicht neben einem Artikel sieht.
Dieses Mal kann sie ihn nicht einfach wegklicken.
Jetzt da sie ihn leibhaftig wiedergesehen hat, kann sie die Bilder nicht mehr unterdrücken, die sich inzwischen auch
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