Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
und ein Glas entdeckt.
Dann hat er doch richtig vermutet.
Trine hat auch früher schon die Bachstelzen mit Brotkrumen gefüttert. Selbst die Wanne, in der sie das Geschirr gespült haben, ist noch dieselbe. Quadratisch, verschossen und rot. Er sieht die alte Rinne, die sein Vater in die Erde gehackt hat, um das Regenwasser von der Hütte wegzuleiten. Ihre Mutter nahm es immer sehr genau mit dem Unkrautjäten, was jetzt aber schon einige Jahre nicht mehr stattgefunden haben dürfte.
Im Gegensatz zu den Pfaden rundherum war das Grundstück immer schon schwer zugänglich, sodass selten Leute an ihrem Haus vorbeikamen – nicht einmal in der Hochsaison – und so mussten sie eigentlich auch nie abschließen. Eine Tradition, die Trine beibehalten hat, wie er zufrieden feststellt.
Er geht hinein, zögernd.
»Trine?«
Es ist merkwürdig, ihren Namen laut auszusprechen, und er bekommt keine Antwort. Es ist still in der Hütte. Aber auf dem Esstisch steht ein Laptop. Kleider liegen über den blauen Sofakissen. Auch die alten blau-weißen Gardinen sind noch da. Er schaut zu den Wacholderbüschen hinaus, die sich wie eine Decke über den felsigen Untergrund vor der Hütte gelegt haben. Das Grundstück ist uneben. Er erinnert sich an die Kokoskekse, die sie gegessen haben, das Hörspiel am Samstag und an den Fernseher, der nie funktionierte.
An alles erinnert er sich.
Er tritt wieder aus der Hütte und klettert auf die Felskuppe, auf der man das Gefühl hat, die ganze Welt läge einem zu Füßen. Er braucht nur in die Knie zu gehen und kann die Erdkugel berühren. Erst jetzt fällt ihm auf, wie windig es ist. Und erst jetzt nimmt er den Geruch aus der Firsbucht wahr, den er als Kind so verabscheut hat, den Geruch nach Tang und Abfall, den das Meer an Land gespült hat und der in der Sonne vermodert.
Wie ist es möglich, dass all das so tief in ihm begraben war, all das Schöne, das sich ihm jetzt wieder offenbart? Er schließt die Augen und lässt es kommen. Steht lange so da.
Irgendwann geht er wieder hinein und setzt sich an den Tisch, auf dem Trines aufgeklappter Laptop steht. Als er aus Versehen gegen eines der Tischbeine tritt, erwacht der Bildschirm zum Leben. Ein Stadtplan erscheint darauf. Blaue, gelbe, weiße und beige Flächen. Ein dicker Strich zieht sich durch die Straßen, an einem Kanal entlang. Er will gerade einen genaueren Blick auf die Straßennamen werfen, als er einen Schatten am Fenster vorbeihuschen sieht. Sein Blick wandert zum Türrahmen, wo seine Schwester steht und ihn erschrocken ansieht.
»Henning? Was zum Teufel tust du hier?«
50
Trine trägt dreckige Wanderschuhe, eine grün-weiß-rote Allwetterjacke und eine Mütze, die die Haare bedeckt.
Er kann nicht anders, als sie anzustarren. Den Zug um die Augen und den Mund hat sie von ihrer Mutter. Sie ist wie früher – nur etwas älter. Das ist Trine, seine Schwester, mit der er seit weiß Gott wie vielen Jahren nicht mehr gesprochen hat.
»Hallo«, sagt er schließlich.
Zwei Männer, Trines Leibwächter, wie Henning vermutet, tauchen neben ihr auf und machen Anstalten, in die Hütte zu stürmen, wovon Trine sie mit einer kurzen Handbewegung abhält und sie mit dem Gesicht von ihm abgewandt informiert, dass das nur ihr Bruder sei.
Dann dreht sie sich wieder ihm zu. Und er weiß nicht, wie er ihren Blick deuten soll. Ob er Zorn oder Furcht darin sieht oder was es sonst ist. Vielleicht ist es auch einfach nur Distanz.
»Bist du gekommen, um Salz in die Wunde zu streuen?«.
»Salz in die Wunde? Nein. Ich bin gekommen …« Henning bricht den Satz ab, denkt nach. »Ich bin gekommen, weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe.«
Trine beginnt zu lachen.
»Es gibt eine Menge Leute, die sich Sorgen um dich machen, Trine, weil du seit anderthalb Tagen nicht mehr zu erreichen bist.«
»Deshalb bist du also gekommen? Um nachzuschauen, ob ich mich hier verstecke?«
»Ja.«
»Typisch«, murmelt sie. Henning will sie gerade fragen, was sie damit meint, aber Trine kommt ihm zuvor. »Also, worum geht’s? Sollst du mich interviewen?«
»Das würde mir nicht im Traum einfallen.«
»Also was …« Trine schluckt die Fortsetzung hinunter.
Henning sieht sie lange an, ehe er das Wort ergreift. »Ich bin gekommen, weil ich versuchen will, dir zu helfen.«
»Ich brauche keine Hilfe«, sagt sie trotzig.
Henning sieht sie an, ihre Finger, die sich ineinander verschränken. Wenn er sie immer noch kennt, hat sie ihre Nägel bis auf die Nagelhaut
Weitere Kostenlose Bücher