Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
abzustecken. Und dass er zurückgekehrt ist, um seinen Plan in die Tat umzusetzen.«
»Kann er nicht einfach von ihr besessen gewesen sein?«, fragt Sandland.
»Hätte er dann ein Bild zerstört, das an der Wand hing? Zweimal nacheinander?« Bjarne schüttelt den Kopf. »Wäre er von ihr besessen gewesen, hätten wir vermutlich Spuren sexueller Gewalt gefunden.«
»Das ist nicht sicher«, sagt Sandland.
»Nein, aber wahrscheinlich.«
Sandland senkt den Blick.
»Aber es gibt auch ein paar Dinge, die gegen meine Theorie sprechen«, fährt Bjarne fort.
»Was zum Beispiel?«, fragt Nøkleby.
»Während der Mord an Johanne Klingenberg geplant gewesen zu sein scheint, bin ich mir in diesem Punkt bei dem Mord an Erna Pedersen unsicher. Es ist wirklich ein Hochrisikosport de luxe , jemanden in einem Pflegeheim umzubringen, in dem man von haufenweise Leuten gesehen werden kann. Er hat seine Tat begangen, als die ganze Etage mit einigen wenigen Ausnahmen an dem ehrenamtlichen Freizeitangebot teilgenommen hat – eine Veranstaltung, bei der gewöhnlich auch Frau Pedersen teilnahm, für die sie am Sonntag aber nicht fit genug war. Er hat folglich spontan die Gelegenheit dazu genutzt. Deswegen bin ich mir nicht sicher, ob er überhaupt vorhatte, sie zu töten. Das Ganze wirkt auf mich irgendwie hastig und chaotisch, wenn ihr versteht, was ich meine. Und vergesst nicht, dass Erna Pedersen bereits mit einem Fuß im Grab stand. Sie wäre ohnehin bald gestorben.«
»Du fragst dich also, warum er sie getötet hat?«, fragt Gjerstad.
»Nein, nicht wirklich. Der Täter war offensichtlich wütend auf sie. Ihr Tod allein reichte ihm nicht aus, er musste ihr auch noch die Stricknadeln in die Augen schlagen. Aber Frau Pedersen war dement, und Demente erinnern sich selten an aktuelle Geschehnisse. Ereignisse aus der Vergangenheit sind hingegen besser abrufbar.« Bjarne sieht zu Sandland, die bestätigend nickt. »Es könnte doch sein, dass der Täter auf irgendeine Weise versucht hat, eine alte Erinnerung in ihr zu wecken. Dieses Klassenfoto könnte darauf hindeuten. Und da er sie schließlich getötet hat, liegt der Gedanke nahe, dass sie ihm irgendwann einmal etwas angetan hat.«
»Dann reden wir also von einem ihrer ehemaligen Schüler?«, fragt Fredrik Stang. »Ich meine, da wir es mit einem Klassenfoto zu tun haben?«
»Es gibt viele Möglichkeiten. Ein Schüler, ein Kollege, ein wütendes Familienmitglied oder ein zorniger Nachbar, der eine enge Beziehung zu demjenigen hatte, dem Pedersen was auch immer angetan hat.«
Bjarne hat vom Reden einen ganz trockenen Mund. Er trinkt einen Schluck Wasser, während er die Gesichter der Anwesenden studiert und versucht zu ergründen, was sie von seinen Überlegungen halten.
»Wir haben gewisse Verhaltensmuster, die in beiden Fällen gleich sind«, fährt er fort. »Und wenn wir die Abweichungen insofern deuten, als der Mord an Erna Pedersen noch spontan war, zeigt der Mord an Johanne Klingenberg, dass der Täter sich inzwischen deutlich stärker unter Kontrolle hat. Das könnte wiederum bedeuten, dass der Mord an Erna Pedersen so etwas wie der Auslöser war.«
»Haben wir es also mit einem Serientäter zu tun?«, fragt Nøkleby skeptisch.
Bjarne hält ihrem Blick ein paar Sekunden stand, ehe er etwas leiser als beabsichtigt antwortet: »Möglicherweise, ja.«
Er hält im Raum nach Unterstützung Ausschau und erntet ein Nicken von Gjerstad. Nach einer Weile stimmt auch Nøkleby zu.
Bjarne ist zufrieden mit den Schlussfolgerungen, aber zwei Fragen regen sich nach wie vor in ihm. Warum hat der Täter die Bilder von Erna Pedersens Sohn und dem kleinen Jungen zerschlagen? Sind darauf womöglich die nächsten Opfer, vorausgesetzt, sie haben es tatsächlich mit einem Serientäter zu tun?
53
Einmal hat er einen Vogel mit bloßen Händen getötet. Das Gefühl, wie das Leben zwischen seinen Fingern zerrann, ließ sein Herz wie wild schlagen, trotzdem war nie die Rede von einem Rausch. Auch nicht, als er die Katze kaltgemacht hat, die sich ins Haus verirrte und nicht wieder rauswollte.
Er war an diesem Tag allein zu Haus, lag krank unter der Decke und sah sich Videos an und hatte keine Lust auf Katzen, die das Haus vollpissten. Deshalb warf er die Decke über sie und fing sie ein, und obwohl er Fieber hatte, spürte er das erhebende Gefühl, Herr über Leben und Tod zu sein.
Doch bei keiner dieser Gelegenheiten sah er den Tod , also den Moment, in dem die Augen ihr Funkeln verloren und
Weitere Kostenlose Bücher