Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
heftigen Bewegung wieder ab.
Pål Fredrik sagt nichts, sieht sie einfach nur an.
Trine denkt an das, woran sie nicht denken will, an das, was sie zu verdrängen versucht hat. Wieder flackern die Bilder jener Nacht auf. Die Bilder, von denen ihre nächtlichen Filme handeln.
Es dauert eine geraume Zeit, bis sie ihn ansieht. »Ich habe das noch nie jemandem erzählt«, beginnt sie dann. »Und du musst mir versprechen, es mit ins Grab zu nehmen. Kannst du das?«
Pål Fredrik nickt.
Trine seufzt, trinkt noch einen Schluck Wein. Sie reibt sich die Schläfen und setzt sich. Es ist still im Wohnzimmer. Chet Baker hat längst Schluss gemacht.
Sie senkt den Blick. Will ihn nicht ansehen, während sie erzählt. Sie sucht sich einen Punkt auf der Tischplatte, den sie fixieren kann.
»Mein Vater«, fängt sie an.
Pål Fredrik nickt.
»Er ist gestorben, als ich fünfzehn war.«
Sie spricht so leise, dass sie kaum ihre eigene Stimme versteht.
»Du willst wirklich wissen, wieso wir in unserer Familie nicht mehr miteinander reden?«, sagt sie und sieht Pål Fredrik nun doch an. »Warum ich es nicht ertrage, etwas mit Henning zu tun zu haben?«
Wieder nickt Pål Fredrik.
»Dann muss ich dir ein paar Dinge über meinen Vater erzählen.«
64
Henning bleibt bis zum späten Nachmittag in der Redaktion, verbringt die meiste Zeit jedoch in der Abstellkammer, wo er ungestört telefonieren kann.
Am Ende ist ihm eingefallen, wen er anrufen kann. Und als er das erledigt hat, fühlt er sich besser.
Es sind immer noch Kollegen in der Redaktion, wenn auch die meisten bereits gegangen sind. Henning setzt sich auf seinen Stuhl, entsperrt seinen Rechner und stellt ein wenig frustriert fest, dass ihn niemand zurückgerufen hat. Weder Ole Christian Sund noch die frühere Nachbarin von Erna Pedersen. Aber so ist das nun mal, denkt er. Als Journalist wirft man Köder aus und hofft, dass irgendwer anbeißt. In der Regel passiert aber nichts.
Henning will sein Glück gerade noch einmal bei Bjarne Brogeland versuchen, als eine Nummer etwas weiter unten auf der Anrufliste seine Aufmerksamkeit weckt. Andreas Kjærs Nummer. Der Mann aus der Polizeizentrale, der an dem Abend Dienst hatte, als es bei Henning gebrannt hat. Es war schon merkwürdig, wie knapp er mir geantwortet hat, überlegt Henning. Jedenfalls hatte er es ganz schön eilig, das Gespräch zu beenden, besonders nachdem ich Tore Pullis Namen ins Spiel gebracht habe.
Und wieder denkt Henning, dass er Prioritäten setzen muss. Was ist wichtiger – ein Selbstmord in Grorud oder der Brand in seiner eigenen Wohnung?
Er legt das Telefon weg, geht ins Internet und findet heraus, dass Kjær mit seiner Familie in der Tåsen allé wohnt. Danach verlässt er das Gebäude und steuert die nächste Bushaltestelle an.
Vierzig Minuten später steht Henning auf der Auffahrt vor einem großen, rot gestrichenen Haus. Die Dachziegel auf dem Dach waren irgendwann vermutlich einmal orange, jetzt sind sie dunkelbraun.
Henning geht an einem mit Kies beladenen Anhänger vorbei, eine Steintreppe hinauf und drückt den Klingelknopf. Er tritt einen Schritt zurück und wartet, wirft einen Blick auf die Uhr auf seinem Handydisplay. Halb sechs. Niemand macht auf. Er klingelt noch einmal, wartet wieder. Drinnen sind keine Schritte zu hören.
Henning flucht innerlich, als er zurück auf die Auffahrt geht. Nachdenklich bleibt er stehen und sieht sich um, ehe er kurzerhand über den feuchten Rasen an der Garage vorbei das Haus umrundet. Neben einer hochgewachsenen Hecke bleibt er stehen.
Ein vielleicht dreizehnjähriger Junge mit Kopfhörern im Ohr harkt frisch gemähtes Gras zusammen. Henning hebt seine Hand zum Gruß und legt sein freundlichstes Ich-bin-nicht-gefährlich-Gesicht auf, unsicher, ob ein Junge in dem Alter an den Narben vorbeisehen kann.
»Hallo«, sagt er mit sanfter Stimme.
Der Junge zieht die Ohrstöpsel heraus und greift fester um die Harke.
»Ich würde gerne deinen Vater sprechen. Ist er zu Hause?«
Der Junge antwortet nicht.
»Ich heiße Henning Juul und arbeite als Journalist bei einer Onlinezeitung.«
Der Junge lockert den Griff ein wenig. »Er ist nicht daheim«, sagt er mürrisch.
»Weißt du, wo er ist?«
»Wahrscheinlich bei der Arbeit. Keine Ahnung.«
Henning nickt und ärgert sich, dass er das nicht vorher überprüft hat. »Weißt du, wann er wieder nach Hause kommt?«
»Nein.«
»Na dann«, sagt Henning und lässt den Blick durch den großen Garten schweifen, über
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