Verleumdung
Perioden, in denen er seine Meinung plötzlich geändert hatte, hatte er in diesem Land nicht einmal wohnen wollen. Und dann wollte er ausgerechnet dort beerdigt werden.
Das erwies sich als Problem für Linnea. Zu dieser Zeit arbeitete sie für Forensic Consult in San Francisco, eine der vielen Firmen, die für private Auftraggeber rechtsmedizinische und kriminaltechnische Arbeiten übernahmen. Linnea hatte seit drei Jahren in dieser Firma gearbeitet und die Nase ziemlich voll. Der Lohn war geradezu provozierend gut, und über die beruflichen Herausforderungen konnte sie eigentlich auch nicht klagen. Als einzige forensische Anthropologin in der Firma war sie mit abwechslungsreicheren Fällen betraut als an den meisten anderen Arbeitsstellen, wo sie sich hätte bewerben können. Aber sie begann das Gefühl zu verlieren, dass ihre Arbeit wichtig war. Dass ihre Arbeit etwas veränderte oder jemandem oder etwas zugutekam. Sie hatte nur keine bessere Idee, was sie sonst machen sollte. Und als ihr Chef ihr mitteilte, dass sie keinesfalls so kurzfristig freinehmen könne, um nach Dänemark zu reisen, war ihr die Entscheidung also nicht unbedingt schwergefallen.
»Ich verstehe ja, dass es eine schwierige Situation für Sie ist«, hatte er gemeint. »Und es tut mir wirklich leid, aber das ist nun mal der Preis dafür, ganz oben dabei zu sein. Wir sind auf unserem Gebiet Marktführer, und Sie sind eine unserer führenden Expertinnen. Ich kann Sie nicht einfach jetzt, wo wir so viel zu tun haben, gehen lassen. Das ist einer der Gründe, dass Sie so gut bezahlt werden. Damit wir mehr von Ihnen verlangen können.«
»Lassen Sie mich nur kurz fragen, ob ich Sie richtig verstanden habe«, hatte Linnea gefragt. »Sie wollen mir für die Beerdigung meines Vaters nicht freigeben?«
»Das kann ich nicht. Und das müssen Sie verstehen.«
Daraufhin hatte Linnea gekündigt. Sie hatte damit gerechnet, die Entscheidung früher oder später zu bereuen. Geglaubt, dass sie noch am gleichen Abend ihren Chef anrufen und ihm erklären würde, sie habe unüberlegt gehandelt, es nicht so gemeint. Doch sie hatte nicht angerufen. Hatte nicht panisch gedacht, einen Fehler gemacht zu haben. Alles, was sie gespürt hatte, war Erleichterung – und eine tiefe Verwunderung darüber, dass sie nicht schon längst gekündigt hatte.
Natürlich war die Beerdigung eine schmerzliche Angelegenheit gewesen. Nachdem Linnea sie überstanden hatte, hatte sie keinen besonderen Grund gesehen, wieder nach San Francisco zurückzugehen. Es gab nichts, was sie dort wirklich hielt. Ihre Unentschiedenheit hatte sich so sehr in ihr festgesetzt, dass es fast absurd war, und dazu geführt, dass sie in Dänemark hängen geblieben war.
Schließlich riss Linnea sich zusammen und erhob sich von ihrem Bürostuhl. Jetzt war es aber wirklich Zeit, nach Hause zu gehen.
43
D u kannst froh sein, dass der Anruf bei mir gelandet ist und nicht beim Chefankläger.«
»Eine Beschwerde vom Institut für Militärpsychologie?«
»Du weißt es also schon. Eine übereifrige Psychologin, die meint, sich in die Arbeit der Polizei einmischen zu müssen.«
»Ich hätte dich darauf vorbereiten sollen. Ich habe heute Vormittag mit einer Psychologin von dort gesprochen«, erklärte Thor. »Natürlich hat sie eine Schweigepflicht und wollte mir keine Auskunft geben. Trotzdem rief sie kurze Zeit später wieder an und sagte, sie müsse meine Anfrage ihrem Chef melden. Offenbar ist das die übliche Vorgehensweise. Gleichzeitig hatte sie Uffe Overbye in ihren Akten gefunden und meinte, mich warnen zu müssen. Nachdem er 2006 aus dem Irak nach Hause zurückkehrt ist, war er mehrmals wegen Zwangsgedanken und einer klinischen Depression an einen Psychologen verwiesen worden, hat die Behandlung aber jedes Mal abgebrochen. Er ist eine tickende Zeitbombe. Letzteres sind natürlich meine Worte, nicht ihre.«
»Dann verstehe ich allerdings nicht, warum du nicht direkt zur Festnahme schreiten willst?«
Thor setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. Er war nicht der Einzige, der froh darüber war, dass man ihnen Lene Mikkelsen als Polizeianwältin zugeteilt hatte. Ihr Vorgänger Heino Bülow, der ein halbes Leben diese Stelle innegehabt hatte, war inzwischen Chef der Anklagebehörde, nachdem man diese neue Position im Zuge der Polizeireform eingerichtet hatte. Er saß nun in der höchsten Führungsebene der Polizei, und mit der Zeit hatten viele das Gefühl, dass ihm die eigentliche Ermittlungsarbeit
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