Verleumdung
Steuernummer herausgefunden, hinter der sich der Verkäufer der meisten Gegenstände verbarg. Zunächst hatte sie im Internet die Adresse recherchiert, hinter der sich nur eine Lagerhalle verbarg, wodurch sie nicht viel schlauer wurde. Sie wollte erfahren, wer als Besitzer der Firma registriert war, aber das nahm Zeit in Anspruch. Informationen über Firmeninhaber waren zwar für jedermann zugänglich, kosteten jedoch eine Gebühr, deren Eingang das Handelsregister erst verzeichnen musste, bevor man die gewünschten Angaben per E-Mail verschickte. Ihre zweite mögliche Spur war der Käufer der Ware, der sich zu Linneas Erstaunen als alter Bekannter herausstellte. Sie hatte ihn leicht ausfindig machen können, denn er wohnte noch immer am selben Ort wie damals.
Aber das muss bis morgen warten, sagte Linnea zu sich selbst.
Sie seufzte und schaltete den Computer aus. Sie konnte sich nicht mal dazu aufraffen aufzustehen. Sie saß nur da und starrte aus dem Fenster. Das Treffen mit Lex hatte ihre Gedanken auf ihre eigene Situation gelenkt, und jetzt musste sie an die Beerdigung ihres Vaters vor mehr als anderthalb Jahren auf dem Holmens Friedhof denken. Sein Tod war der Grund, dass sie überhaupt nach Dänemark zurückgekehrt war. So einfach war das. Und gleichzeitig doch so kompliziert.
Nachdem sie in die USA gezogen war, hatte Linnea nur wenig Kontakt zu ihren Eltern gehabt. Man konnte nicht sagen, dass sie ein schlechtes Verhältnis hatten – die Frage war eher, ob es überhaupt ein Verhältnis zwischen ihnen gab. Nach der Pensionierung des Vaters von seinem letzten Botschafterposten in Oslo hatten sich die Eltern in der Normandie niedergelassen. Dort hatten sie eine alte Apfelplantage gekauft und die dazugehörigen Gebäude instand gesetzt. Linnea hatte nie richtig verstanden, was sie dort, so weit entfernt von allem, zu tun gedachten. Die Eltern selbst wussten es anscheinend auch nicht, denn soweit sie den sporadischen Telefonaten mit ihrer Mutter entnehmen konnte, hatte sich der Vater häufiger in Paris als im Haus bei Évreux aufgehalten. Und in Paris war der Vater dann auch am 21. November 2007 bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt.
»Ist dir klar, wie spät es ist?«, hatte Linnea gefragt, als der Anruf der Mutter sie in einem Hotelzimmer in San Diego geweckt hatte, wo sie gerade an einer Konferenz zum Thema Katastrophenbereitschaft teilnahm.
»Er ist tot«, hatte die Mutter nur gesagt.
»Wovon redest du?«
Anschließend hatte sie für einige Sekunden geschwiegen, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten.
»Vater? Ist etwas mit Vater passiert?«
»Er ist tot«, hatte die Mutter wiederholt.
Linnea hatte im Hotelzimmer mit dem Telefonhörer in der Hand in die Nacht gestarrt. Die Nachricht kam völlig unerwartet, aber genauso unerwartet erschien es ihr, dass es sie berührte. Dass sie etwas fühlte. Sogar traurig darüber wurde. Sie legte auf, ging ins Badezimmer, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen, und setzte sich wieder auf die Bettkante, um die Mutter anzurufen.
Diese meldete sich sofort und begann unzusammenhängend zu erklären, dass der Vater auf der Pariser Stadtautobahn zu Tode gekommen war. Nicht weit von der Porte Dauphine war er frontal gegen einen Betonpfeiler geprallt. Zu dieser Zeit hatte kaum Verkehr geherrscht, und die Polizei ging davon aus, dass er unter Alkoholeinfluss gestanden hatte. Darüber würde die Obduktion Auskunft geben. Außerdem hatte er nicht allein im Wagen gesessen. Die Polizei habe sie informiert, dass er in Begleitung einer Frau gewesen sei. Aber darüber, wer sie war und ob sie verletzt worden war, hatten die Beamten der Mutter nichts sagen wollen.
»Sie wollten mich ihn nicht sehen lassen«, hatte die Mutter wieder und wieder gesagt. »Sie wollten mich ihn nicht sehen lassen.«
Mehr hatte Linnea nicht aus ihrer Mutter herausbekommen, und mehr hatte sie auch danach nie über die mysteriösen Umstände des Unfalls erfahren. Später behauptete die Mutter einfach, die Sache mit der Frau sei ein Missverständnis gewesen. Sie habe die erste Nachricht der Polizei lediglich falsch interpretiert, da sie zu sehr unter Schock gestanden habe. Seither weigerte sie sich, darüber zu sprechen, und Linnea entschied sich, nicht weiter nachzuhaken.
Als sie erfuhr, wo der Vater beerdigt werden wollte, war sie sehr überrascht. Ihre gesamte Kindheit hindurch hatte er sich herablassend über das provinzielle Dänemark geäußert. Und abgesehen von den kurzen
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