Verleumdung

fremd geworden war. Lene Mikkelsen war da ganz anders. Als sie nach nur wenigen Jahren im Polizeidienst und frisch vom Jurastudium als Polizeianwältin eingestellt wurde, waren alle zutiefst skeptisch gewesen. Und dass sie noch dazu jung und blond war, hatte das Vertrauen in ihre Fachkompetenz nicht gerade gestärkt. Doch sie hatte alle mit ihrer Auffassungsgabe und Intelligenz und nicht zuletzt mit ihrer verlässlichen Integrität überzeugt. Thor hatte mehr als einmal erlebt, dass sie ihn zurechtwies, obwohl sie fast zehn Jahre jünger war als er. Und auch, dass sie ihm einen Ermittlungsschritt verwehrte – und später hatte er ihr mit ihrer Einschätzung insgeheim immer recht geben müssen.
    »Wir müssen Uffe Overbye verhaften, damit wir ihn als Beschuldigten vernehmen können«, erklärte Lene Mikkelsen. »Zum einen wegen seiner Verbindung zu dem Mord an Jonas Holm Neergaard, zum anderen aber auch, um den Fall Firaz Khalid aufzuklären.«
    Sie sah Thor an, der zögernd nickte. Irgendetwas störte ihn an der Richtung, in die sich der Fall entwickelte. Zwar deutete vieles auf eine Schuld von Uffe Overbye hin, aber nicht genug, um Thor zu überzeugen. Er fürchtete, dass sie sich mangels besserer Alternativen zu sehr auf ihren einzigen Verdächtigen versteiften. Sie brauchten dringend neue Anhaltspunkte. Ihre bisher beste Spur war die DNA-Probe gewesen, und damit waren sie völlig gescheitert. Man konnte vieles bewerkstelligen, aber eine tote amerikanische Präzisionsschützin als Mörderin war nicht gerade wahrscheinlich. Obendrein behauptete das Rechtsgenetische Institut, die DNA-Probe sei zu klein, um daraus eine weitere zu isolieren. Wenn Thor keinen Verdächtigen fand, mit dem man die Ergebnisse vergleichen konnte, waren die technischen Untersuchungen schlimmstenfalls nutzlos.
    »Ich habe mir deine vorläufigen Berichte natürlich angesehen«, fuhr Lene Mikkelsen fort. »Und ich teile deine Bedenken nicht ganz. Aber vielleicht könntest du versuchen, mir den Fall noch einmal aus deiner Sicht darzulegen?«
    Thor nickte und holte die Ausdrucke hervor, die er am Vormittag als PDF erhalten hatte. Er breitete sie auf dem Schreibtisch vor Lene Mikkelsen aus, die bereitwillig ihren Computer und ihre Kaffeetasse aus dem Weg räumte. Er versuchte, den verlockenden Duft des frischen Parfüms an ihrem sonnengebräunten Hals zu ignorieren und sich auf seine Darlegung zu konzentrieren.
    »Hierbei handelt es sich um die gespeicherten Teledaten von Neergaard, die ich angefordert habe«, erklärte er schließlich, als er sich wieder auf der sicheren Seite des Schreibtischs befand. »Wie du weißt, muss ein Handy Verbindung zu einem Mast haben, wenn es Daten sendet oder empfängt. Es kann lange dauern, diese Informationen auszuwerten, aber es lässt sich doch bewerkstelligen. Und selbst wenn sie nicht ganz genau sind, stehen doch meistens mehrere Masten in der Nähe, so dass man seinen Wegen halbwegs folgen kann. Wenn du dir die von mir markierten Daten anschaust, wirst du sehen, dass es sich um eine Rückmeldung von Masten im Odsherred-Gebiet handelt.«
    »Im Lammefjord, meinst du? Und zu einem Zeitpunkt, der mit der Ermordung des Irakers übereinstimmt?«
    Thor nickte.
    »Er kann zu der relevanten Zeit an den Tatort gekoppelt werden. Ich bezweifle, dass es sich dabei um einen Zufall handelt. Und dann liegt der Gedanke an eine Verschwörung, deren Ursprung in den alten Foltervorwürfen liegt, ziemlich nahe. Khalid war ja der damalige Dolmetscher, der seine Zeugenaussage zurückzog. Neergaard und Overbye waren die beiden Offiziere, die das Verhör durchführten. Vielleicht war der Dolmetscher auf die Idee gekommen, sie zu erpressen?«
    »Das stärkt aber doch wohl nur den Verdacht gegen Uffe Overbye?«
    Thor nickte.
    »Wenn man den Gedanken weiterverfolgt, so stellte Neergaard nach dem Dolmetscher die größte Gefahr dafür dar, dass der Fall erneut aufgerollt wurde. Unter allen Umständen bedeutet das, dass Overbye über seine eigene Rolle in dem ganzen Verlauf gelogen hat. Er besitzt wertvolles Wissen über den Fall, und er will nicht kooperieren. Aber hat er Neergaard wirklich getötet? Die Psychologin sagt immerhin, er sei instabil.«
    Lene Mikkelsen lächelte ihn an.
    »Und du meinst, man müsse sich im psychischen Gleichgewicht befinden, um jemanden zu töten? Ich muss immer wieder an den Bericht der forensischen Anthropologin denken. Du hast zwar erwähnt, dass sie dir gegenüber von einer Frau gesprochen hat. Doch in