Verleumdung
dann zu viel.«
»Einverstanden. Aber wie erklärst du dir den Mord an Neergaard?«
Thor seufzte. Genau das war das Problem.
*
Im Haus sah alles genau aus wie beim letzten Mal, als Linnea Lex besucht hatte. Abgesehen davon, dass Lex nicht da war und sich die Zeichen mehrten, dass Linnea die Terrassentür völlig umsonst zerschmettert hatte. Jedenfalls war nirgends eine schwerverletzte Lex zu finden, die darauf wartete, in letzter Sekunde gerettet zu werden. Dennoch war sich Linnea immer noch sicher, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte, aber sie konnte nicht genau sagen, was. Draußen hupte das Taxi.
»Ich komme gleich«, murmelte sie.
Anschließend ging sie in den Flur. Ihr war der Raum im Keller wieder eingefallen, in den sie sich beim letzten Mal verirrt hatte. Diesmal stand die Tür angelehnt, als habe jemand den Keller in großer Hast verlassen. Sie tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn aber nicht. Sie holte ihr Handy heraus und schaltete die integrierte Taschenlampe ein, aber die Beleuchtung war eher dürftig. Sie schlich die Treppe hinunter und betrat den großen Raum.
Sie spürte sofort, dass sich etwas verändert hatte. Ihre Schritte hallten stärker wider. Sie schlich zu der einen Wand, tastete erneut mit der Hand darauf entlang und fand einen Lichtschalter. Nach einem kurzen Zögern drückte sie darauf und war überrascht. Der Raum war vollkommen leer. Beim letzten Mal hatten noch einzelne Gegenstände herumgestanden und Umzugskartons, die offenbar gerade befüllt oder ausgepackt wurden. Ihr erster Gedanke war richtig gewesen. Es handelte sich tatsächlich um einen Ausstellungsraum. Und die Sitzecke mit der kleinen Bar diente anscheinend dazu, beim Verkaufsgespräch entspannt zu sitzen und einen Drink nehmen zu können.
Linnea ging hinüber und ließ sich in einem Sessel nieder. Langsam dämmerte ihr, dass es vermutlich ziemlich viel gab, was sie nicht über Lex wusste. Und das, obwohl sie zu den wenigen Menschen gehörte, denen die Freundin erlaubt hatte, ein wenig hinter die Fassade zu blicken, die Lex und ihre Familie so eifrig aufrechterhielten. Offenbar war es geradezu eine Familientradition, über seine eigenen Verhältnisse zu leben und sich in erster Linie darum zu kümmern, was man vor den anderen darstellte.
Dass man den eigenen hohen Ansprüchen nicht immer gerecht werden konnte, war vermutlich auch der Grund dafür, dass Lex früher so selten Linnea oder andere Klassenkameraden zu sich nach Hause eingeladen hatte. Im Laufe ihrer Freundschaft hatte Linnea sich langsam ein realistischeres Bild von Lex’ Familienverhältnissen machen können, teils durch kleine Bemerkungen und teils durch Anfälle plötzlicher Vertraulichkeit, die immer dann kamen, wenn sie in den frühen Morgenstunden gemeinsam nach Hause gewankt waren.
Soweit Linnea verstanden hatte, verabscheute Lex ihren Vater. Sie beschrieb ihn als charmanten Schwindler, dessen primäre Antriebskraft ein konstantes Streben nach oben darstellte. Er stammte aus einer einfachen Arbeiterfamilie, hatte jedoch schon früh bemerkt, dass sich der Erfolg früher oder später einstellte, wenn er ihn schon vorher ausstrahlte. Er war immer tadellos und teuer gekleidet und trat sehr überzeugend als gewiefter Geschäftsmann mit großem Potential auf. Das hatte auch die Ehe mit Lex’ Mutter ermöglicht. Sie kam aus einer weitaus höheren sozialen Schicht als er. Das half ihm zu einem guten Namen und Kapital für seine vielen unterschiedlichen Projekte, die der Familie über einen kürzeren Zeitraum hinweg auch tatsächlich Wohlstand einbrachten.
»Appearance is everything«, hatte Lex ihren Vater mit übertrieben dänischem Akzent nachgeäfft, als sie Linnea vom Motto ihres Vaters erzählt hatte, das er auch an seine Töchter weitergegeben hatte. Lex und ihre Schwester gingen in die vornehmsten Schulen und gehörten immer zu den Bestgekleideten. Schon von kleinauf wurden sie darauf gedrillt, vor ihrer Umwelt zu verbergen, wie es in Wirklichkeit um die Familie stand. In Wahrheit war Lex’ Vater kein guter Geschäftsmann, und die Familie stand oft am Rande des Ruins. Die Mutter hörte dennoch nie auf, heillos in den Vater verliebt zu sein, und unterstützte ihn treu bei all seinen Geschäften, obwohl es sie allmählich den Kontakt zu ihrer eigenen Familie kostete. Denn die hatte schon bald keine Lust mehr, das ausschweifende Leben ihres Ehemannes mitzufinanzieren.
Auch wenn sich Lex von ihrem Vater und
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