Verleumdung
Wangenknochen verzerrten. Wie das Porträt eines Gespenstes, in dem gleichzeitig Inneres und Äußeres sichtbar wurden.
Das Gesicht wirkte tot und lebendig zugleich. Linnea war mit dem Ergebnis ihrer Arbeit sehr zufrieden. Es war noch überzeugender geworden, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie prüfte, ob sie auch wirklich die neueste Version des Bildes gespeichert hatte. Dann legte sie es auf den FTP-Server und verschickte eine Rundmail, dass man es sich unter Angabe des üblichen Passworts herunterladen konnte. Danach stand sie auf, um am offenen Fenster ein wenig frische Luft zu schnappen. Sie versuchte sich einzureden, dass es nicht nötig sei, rief dann aber beim Politigården an.
»Ich würde gern mit Tage Ewald sprechen.«
»Der ist gerade unterwegs.«
Linnea schwieg einige Sekunden lang, dann bat sie darum, stattdessen mit Thor M. Dinesen sprechen zu dürfen.
»Einen Augenblick, ich stelle Sie durch.«
Sie hatte überhaupt keine Lust, mit Thor zu reden. Weder jetzt noch später. Aber wenn sie sich zwischen den übrigen Ermittlern der Mordkommission entscheiden musste, die mit dem Fall vom Lammefjord beschäftigt waren, war er doch das geringste Übel. Nichtsdestotrotz war es eine unangenehme Situation. Linnea war Thor zum ersten Mal im letzten Jahr an Heiligabend im Kulturcenter Huset in der Magstræde begegnet. Damals war sie noch nicht lange in Dänemark gewesen. Die Beerdigung des Vaters war gerade überstanden, und ihr wurde klar, dass sie aus irgendeinem Grund immer noch nicht nach San Francisco zurückgekehrt war. Sie war kurz davor, in die Wohnung in der Knabrostræde einzuziehen. Linnea hatte es bislang jedoch nicht über sich gebracht, ihrem Freund Phil, der in Berkeley eifrig an seiner Dissertation arbeitete, zu erklären, warum sie nicht zurückkam.
Den Heiligabend hatte sie allein verbracht. Ihre Mutter hatte sich geweigert, zur Beerdigung des Vaters zu kommen, und sich damit entschuldigt, dass sie nicht zu einer Reise in der Lage war, weil sie so sehr unter Schock stand. Sie wollte Weihnachten allein sein. Linnea ertappte sich zum ersten Mal bei dem heimlichen Wunsch, die Feiertage mit ihr gemeinsam zu verbringen. Wie eine richtige Familie, die zusammen glücklich war, Geschenke kaufte und Konfekt machte oder was sie sich sonst noch alles unter Nähe und Gemütlichkeit vorstellte. Wenigstens einmal im Jahr sollte man doch wohl mit denen zusammen sein, die man liebte.
Stattdessen hatte Linnea den Abend schließlich stoisch und erhaben durchgestanden. Sie aß ein lauwarmes, ansonsten jedoch phantastisches Weihnachts-Take-Away aus dem Restaurant Nouveau, das innerhalb kürzester Zeit ihr bevorzugter Ort geworden war. Und alles war im Großen und Ganzen nach Plan verlaufen, bis es Mitternacht war und sie merkte, dass sie weder müde war, noch Lust hatte, ins Bett zu gehen oder allein zu sein. Nach kurzem Zögern hatte sie das Stella-McCartney-Silbertop angezogen, das sie sich feierlich selbst geschenkt hatte, das Ganze mit ein paar Spritzern Donna Karan Gold ergänzt und sich dann auf die Straße gewagt. Ohne groß darüber nachzudenken, war sie schließlich im Kulturcenter Huset gelandet, wo sie zur Gymnasialzeit endlose Nächte im Barbue verbracht hatte. Natürlich existierte der Club nicht mehr unter diesem Namen, aber die Musik wummerte trotzdem, und die Menschen drängten sich dicht an dicht. Zu ihrer Überraschung waren die meisten Gäste in ihrem Alter und schienen nicht besonders unglücklich darüber, zu Weihnachten auszugehen, anstatt zusammen mit ihren Familien zu Hause zu feiern.
Und noch ehe Linnea es sich versah, hatte sie sich auf den größten und bestaussehenden Typen an der Bar gestürzt. Er war muskulös, ohne wie aufgepumpt zu wirken. Noch dazu tanzte er ausgesprochen gut, was ihn, soweit sie sich erinnerte, zu einer seltenen Spezies unter den dänischen Männern machte. Wie sie später herausfand, war Thor traurig darüber gewesen, Weihnachten nicht mit seiner Tochter verbringen zu können, die bei seiner Ex feierte. Aber das hinderte ihn nicht daran, es an jenem Abend richtig krachen zu lassen. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, ihn zu erobern, sich schließlich jedoch selbst von ihm und seinen schelmischen Augen verführen lassen.
Beim letzten Tanz hatte er ihr verraten, dass er Polizist war, und hatte sie nach ihrem Beruf gefragt.
»Anthropologin«, hatte sie geantwortet. »Aber nicht das, was man hier in Dänemark darunter versteht. Ich fahre nicht in die Welt
Weitere Kostenlose Bücher